Swipe, um zu sehen, wer jetzt online ist!

Der lila Duft des Lavendel

Geschichte Info
Ein junger Arzt fährt zum Onkel in der Provence.
15k Wörter
4.65
68.1k
35
Geschichte hat keine Tags
Teile diese Geschichte

Schriftgröße

Standardschriftgröße

Schriftabstand

Standard-Schriftabstand

Schriftart Gesicht

Standardschriftfläche

Thema lesen

Standardthema (Weiß)
Du brauchst Login oder Anmelden um Ihre Anpassung in Ihrem Literotica-Profil zu speichern.
ÖFFENTLICHE BETA

Hinweis: Sie können die Schriftgröße und das Schriftbild ändern und den Dunkelmodus aktivieren, indem Sie im Story-Infofeld auf die Registerkarte "A" klicken.

Sie können während unseres laufenden öffentlichen Betatests vorübergehend zu einem Classic Literotica® Erlebnis zurückkehren. Bitte erwägen Sie, Feedback zu Problemen zu hinterlassen oder Verbesserungsvorschläge zu machen.

Klicke hier

Der lila Duft des Lavendel

Kapitel 1

Der schwere Duft von Lavendel hängt allgegenwärtig in der Luft. Die lilafarbenen Felder gleiten an mir vorbei und wirken schier endlos. Die Weite ist überwältigend. Für einen Stadtmenschen wie mich wirkt das alles völlig unrealistisch. Ich kenne solche Landschaften nur von Bildern. Sie schauen aus, wie gemalt. Das intensive Licht des Spätnachmittages verleiht der Stimmung eine besondere Intensität, etwas Mystisches.

Passender zum Anlass, der mich in diese Gegend führt, könnte die Atmosphäre nicht sein. Lila ist die Farbe des Todes und der Trauer. Genau damit hat mein Besuch in der Provence zu tun.

Zuerst wollte ich gar nicht herkommen. Mein Onkel Roland liegt im Sterben und hat mich von seinem Notar anrufen lassen. Er selbst sei zu schwach dazu, hat der Notar erklärt.

An Onkel Roland kann ich mich zwar noch dunkel erinnern, aber es ist sehr, sehr lange her. Er hat vor vielen Jahrzehnten zusammen mit meinem Vater - seinem Bruder - einen Landsitz in der Provence gekauft. Ich durfte dort ein paar Mal meine Ferien verbringen und fand den Onkel eigentlich richtig cool, soweit ich mich eben erinnern kann. Auch der Landsitz war einmalig schön.

Die Erinnerungen sind sehr verschwommen und vermutlich von meiner kindlichen Wahrnehmung geprägt. Auf jeden Fall habe ich diese Zeit als eine der tollsten meines Lebens in Erinnerung. Inzwischen bin ich jedoch ein erwachsener Mann und sehe die Welt mit etwas anderen Augen.

Zwischen den beiden Brüdern kam es irgendwann zum Streit. Ich war noch ein Kind und habe nicht mitbekommen, worum es wirklich ging. Soweit ich mitbekommen habe, wurde das Gut auf Onkel Roland überschrieben und der Kontakt ist wenig später komplett abgebrochen. Ich bin nie mehr in die Provence gefahren. Das ist, wie gesagt, ewig her und ich verstehe nicht, was ich mit alledem noch zu tun habe. Was mache ich hier eigentlich?

Mein Vater ist vor fünf Jahren gestorben. Er hat mir ausdrücklich verboten Onkel Roland zur Beerdigung einzuladen. Zwischen den beiden muss etwas sehr Schwerwiegendes vorgefallen sein. Mein Vater war eigentlich kein nachtragender Mensch. Wenn er also bis in den Tod hinein den Kontakt mit Onkel Roland nicht wieder aufnehmen wollte, dann muss etwas äußerst Gravierendes vorgefallen sein. Doch was genau, hat mein Vater nie erzählt. Er hat dieses Geheimnis mit ins Grab genommen.

Auch meine Mutter wollte mir nie wirklich die Wahrheit sagen. Auf meine Fragen hat sie immer nur ausweichend geantwortet. Die beiden hätten gestritten, hat sie immer erklärt. Mehr wolle sie dazu nicht sagen. Und nun kam dieser Anruf.

Ich bin Arzt und arbeite in einem Krankenhaus in Frankfurt. Mein Job füllt mich aus. Das heißt jetzt nicht, dass ich nur für den Job lebe. Ich unternehme durchaus einiges und bin gern mit Leuten zusammen. Eine feste Freundin habe ich im Augenblick nicht. Natürlich habe ich das eine und das andere Techtelmechtel, eine längere Beziehung habe ich schon seit Langem nicht mehr. Dabei kann ich nicht sagen, woran es genau liegt. Natürlich haben die oft langen Arbeitszeiten und die Nachtschichten eine Mitschuld daran, aber eher liegt es wohl daran, dass ich mich nicht wirklich binden will. Ich genieße viel lieber meine Freiheit solange ich noch kann. Es wäre aber auch möglich, dass ich einfach nur noch nicht die Richtige getroffen habe.

Vor zwei Tagen kam dann dieser Anruf. Mit so etwas hatte ich am allerwenigsten gerechnet und war auch entsprechen irritiert. Erst im Nachhinein sind mir unzählige Fragen eingefallen, die ich dem Notar hätte stellen können. Er hat mich ganz einfach überrumpelt. Kurzum, am Ende des Telefonats habe ich mich breitschlagen lassen und habe mich auf den Weg zum Anwesen meines Onkels gemacht. Ich habe eine Woche Urlaub genommen. In die Provence zu fahren ist sicher nicht schlecht. Ich soll ja sowieso Urlaubstage abbauen und, wenn ich schon einmal den weiten Weg auf mich nehme, dann soll es sich auch lohnen. Deshalb habe ich mir vorgenommen, die Zeit zu nützen und zu entspannen.

Was wird mich erwarten? Warum will mich mein Onkel nach so vielen Jahren wiedersehen? Ich bin kein berühmter Arzt, den er um Rat oder gar um Hilfe bitten könnte. Ich bin nur ein kleines Rädchen in den Krankenhausmühlen. Mit meinem Beruf als Arzt kann es nicht zusammenhängen. Warum ruft eigentlich ein Notar an?

Ich verbanne die nutzlosen Fragen aus meinem Kopf. Hier und jetzt bekomme ich sowieso keine Antworten. Viel klüger ist es, ich genieße die herrliche Landschaft, die an mir vorbeizieht und die sich scheinbar endlos zu wiederholen scheint. Gerade diese Endlosigkeit und diese Weite sind faszinierend. Als Stadtmensch kenne ich nur Begrenztheit und Enge. Nicht nur räumlich. Bei vielen Menschen habe ich diesen Eindruck auch bei ihrem Denken.

Der späte Nachmittag ist wohl die schönste Zeit des Tages. Die Sonne ist nicht mehr so gleißend und das Licht nicht mehr so stark. Und doch schenkt es der Landschaft Farben, die schöner und intensiver nicht sein könnten. Die von der Erde aufsteigende Wärme gibt den Bildern mit ihrem Flimmern etwas Surreales. Ich spüre förmlich, wie die Wärme des abendlichen Lichtes auch mein Herz erreicht.

Es dämmert bereits, als ich das Chateau erreiche. Die Sonne ist untergegangen und die Nacht breitet sich langsam aber schleichend über der Landschaft aus. Die Dunkelheit kommt mir vor wie ein alles bedeckendes Tuch, unter dem die Welt zu verschwinden scheint. Ich empfinde die Stimmung als beklemmend. Oder bilde ich mir das nur ein, weil mein Onkel möglicherweise im Sterben liegt?

Vom Parkplatz aus führt ein mit Bachsteinen belegter Weg, gesäumt von Zypressen und blühenden Sträuchern hinauf zum Haupthaus. Die Lampe über dem Haupteingang spendet nur wenig Licht. Eine Klingel kann ich nicht finden und klopfe deshalb an die Eingangstür. Schon bald höre ich ein helles Trippeln aus dem Inneren des Hauses. Es müssen die Schritte eines Mädchens oder einer zarten Frau sein. Mein Onkel kann das nicht sein.

„Wer ist da?", höre ich eine schwache Frauenstimme rufen.

„Guten Abend, ich bin Thomas Führmann, Roland hat mich eingeladen."

„Ach, Sie sind schon das?"

Ich höre, wie sie die Tür aufsperrt. Das Geräusch erinnert an ein schweres, altes Schloss. Als die Tür mit einem leisen aber bis ins Mark gehenden Quietschen vorsichtig geöffnet wird, bin ich gespannt, wer mir öffnet. Im Türspalt erscheint eine zierliche, junge Frau. Mir fällt sofort ihr ausgesprochen freundliches Lächeln ins Auge. Und sie ist hübsch, unsagbar hübsch sogar. Sie hat gewellte, braune Haare, ein zartes Gesicht mit hohen Wangenknochen und eine sehr zierliche Figur.

Auch wenn ich sie im Halbdunkel des Türeingangs nur recht schemenhaft erkenne, bin ich von ihrem Anblick überwältigt. Besonders ihre Augen ziehen mich in ihren Bann! Ich kann die Farbe nicht erkennen, aber sie sind neugierig und offen. Noch nie hat mich der Blick eines Menschen so fasziniert.

„Guten Abend, Herr Führmann, willkommen", meint sie. Dabei streckt sie mir ihre Hand zum Gruß entgegen.

„Guten Abend, mit wem habe ich das Vergnügen?"

„Ich bin Vera, die Stieftochter Ihres Onkels", antwortet sie.

„Sollten wir dann nicht Du zueinander sagen? Du bist schließlich meine Cousine."

„Nicht die leibliche Cousine", antwortet sie schüchtern. „Aber das macht eigentlich nichts."

„Schön habt Ihr es hier", versuche ich das Gespräch in Gang zu halten.

„Ja, danke."

Wir stehen uns etwas verlegen im langen Flur des Hauses gegenüber. Auch hier drinnen spendet nur eine schwache Lampe ein sehr gedämpftes Licht. Wir wissen beide nicht recht, was wir sagen sollen. Die Situation ist für uns beide ungewohnt und neu.

„Darf ich hier im Haus wohnen?", frage ich vorsichtig.

„Ach ja, entschuldige. Natürlich! Ich zeige dir dein Zimmer. Du hast nach der langen Fahrt sicher Hunger."

„Nur wenn es keine Umstände macht."

„Nein, nein, du darfst nur nicht anspruchsvoll sein", meint sie.

Vera geht zur Treppe und schaut sich dort zur Sicherheit noch einmal um, ob ich ihr auch wirklich folge. Als sie sieht, dass ich mit meinem Koffer hinter ihr bin, dreht sie sich wieder um und geht die Treppe nach oben. Ich habe den Eindruck, sie versucht so leise wie möglich zu sein. Das leise Knarren der Holzstufen klingt in der Stille viel lauter, als es in Wirklichkeit ist. Oben angekommen geht sie auf eine Tür zu und öffnet sie.

„Das ist dein Zimmer. Mach dich frisch und komm danach hinunter ins Esszimmer."

„In Ordnung, ich komme in zehn Minuten."

Das Zimmer ist einfach aber sauber. Die Einrichtung wirkt ein wenig zusammengewürfelt, doch das ist am Land halt so. Man nimmt, was man hat und was zweckmäßig ist. Ich wasche mir Hände und Gesicht, schlüpfe schnell in praktische Kleidung und mache mich auch schon wieder auf den Weg nach unten.

Dort angekommen schaue ich mich kurz um, um mich zu orientieren. Ich weiß schließlich nicht genau, wo ich hinmuss. Aus einer halb offenstehenden Tür fällt ein schwacher Schimmer auf den Flur. Ich halte plötzlich inne, denn ich habe den Eindruck, ich höre ein leises Schluchzen. Und tatsächlich, ich höre, wie jemand still weint.

Ich betrete leise den Raum und stehe tatsächlich im Esszimmer. Auf dem Tisch stehen eine Flasche Rotwein, etwas Käse und ein Brotkorb mit Baguette. Auf einem der Stühle sitzt Vera. Sie ist zusammengekauert und weint. Ich gehe auf sie zu und lege von hinten die Hände an ihre Schultern.

„Was ist denn los?", frage ich vorsichtig.

Vera schaut erschrocken auf und wischt sich schnell die Tränen aus den Augen. Sie springt auf, als sei sie ertappt worden.

„Nichts, es ist nichts. Bitte, setz dich und iss", meint sie nur.

„Danke!"

Ich übergehe vorerst das, was ich gesehen habe und setze mich an den Tisch. Ich nehme einen Schluck Wein. Ich muss feststellen, dass er ausgesprochen lecker ist. Auch der Käse ist köstlich. Mein Hunger hält sich trotz der langen Fahrt in Grenzen. Es wird einerseits die Müdigkeit sein, andererseits beschäftigt mich die Situation.

Ich hatte nicht erwartet, ein junges Mädchen anzutreffen. Genau genommen habe ich mir gar keine Gedanken gemacht, wen ich antreffe. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, ob mein Onkel Familie hat. Doch so, wie es aussieht, ist wohl nur Vera hier. Besteht seine ganze Familie nur aus ihr?

Als ich mit dem Essen fertig bin helfe ich Vera, das Geschirr in die Küche zu tragen. Ich stelle meinen Teller und das Besteck in die Spüle, während sie den Käse in den Kühlschrank räumt. Dabei habe ich Gelegenheit ihre Figur zu begutachten. Sie ist schlank, hat einen echt geilen Knackarsch und eine Hammerfigur.

„Trinkst du ein Glas Wein mit mir?", frage ich. Vera schaut mich etwas überrascht an und überlegt kurz.

„Aber nur eines", antwortet sie.

„Ich trinke auch nur eines", versichere ich. „Nach der langen Fahrt ist eines genau richtig, um etwas herunter zu kommen."

Vera nimmt sich ein Glas und zurück im Esszimmer schenke ich Wein ein. Wir stoßen ohne viel zu sagen an, schauen uns dabei direkt in die Augen. Die Stimmung ist immer noch bedrückend. Ich spüre, dass Vera etwas belastet.

„Gehen wir vor die Tür? Ich würde gerne die Abendstimmung und die frische Luft genießen", frage ich.

„Gerne", antwortet sie und nimmt ihr Glas.

Über eine Seitentür kommen wir auf eine Terrasse. Sie ist so gebaut, dass sie weitgehend in den Weinbergen verborgen ist. Selbst das Geländer ist von Weinreben zugewachsen und als solches kaum noch zu erkennen. Vera geht an die Brüstung, ihr Blick verliert sich starr und ausdruckslos in der Ferne.

„Was ist los?", frage ich noch einmal.

„Mein Stiefvater liegt im Sterben", antwortet sie. Vera bricht erneut in Schluchzen aus.

„Das tut mir unglaublich leid", bringe ich gerade so hervor. Es schnürt mir beinahe die Luft ab.

„Was soll aus mir werden?", schluchzt Vera. „Aus dem Weingut?"

Ich nehme sie in den Arm. Ich kann nicht anders, es ist eine spontane Geste. Das Mädchen tut mir so unsagbar leid. Ich kann sie gut verstehen, für sie stürzt im Augenblick ihr gesamtes bisheriges Leben ein. Es wird nichts mehr so sein, wie sie es bisher gekannt hat.

Zu meiner Überraschung lehnt sie sich an mich und hält ihren Schmerz nicht länger zurück. Die Tränen kullern nur so über ihre Wangen und sie drückt ihren Kopf Schutz suchend gegen meine Brust. Ganz unwillkürlich lege ich meine Arme um sie und streiche ihr sanft zur Beruhigung über den Rücken.

Wir stehen eine ganze Weile nur so da, ohne zu sprechen. Ich fühle, dass es im Augenblick besser ist, einfach nur für Vera da zu sein, sie im Arm zu halten und still zu sein. Sie braucht im Moment eine Schulter, an der sie sich anlehnen und ausweinen kann. Auch wenn wir genau genommen Fremde sind, spüre ich doch eine unglaubliche Verbundenheit mit diesem Mädchen.

„Du musst mich für eine fürchterliche Heulsuse halten", meint sie schließlich weinerlich.

„Nein, das tue ich nicht."

„Na was denn sonst? Du kommst nach einer langen Reise hier an und ich heule dir die Ohren voll."

„Du hast allen Grund dazu. Der nahe Tod eines lieben Menschen ist für niemanden einfach. Und wenn es noch dazu der einzige Mensch ist, der einem wirklich etwas bedeutet, dann umso mehr. Ich habe auch meinen Vater verloren. Ich weiß, was du empfindest."

„Ich möchte stark sein. Ich muss auch für ihn stark sein", meint sie beschwörend.

„Du liebst ihn sehr?"

„Er war fast mein ganzes Leben lang immer für mich da. Er ist mein wirklicher Vater", erzählt sie. „Mein leiblicher Vater hat sich nicht ein einziges Mal gemeldet. Dem bin ich scheißegal."

„Wie alt warst du, als du zu ihm gekommen bist?"

„Meine Mutter hat Roland kennengelernt, da war ich vier Jahre alt. Das war die große Wende in meinem Leben, alles hat sich zum Guten gedreht. Wir haben zuvor in einer kleinen Wohnung in der Stadt gewohnt. Nicht in einem Nobelviertel, sondern in einer Ecke der Stadt, wo die wohnen, die nicht viel Geld haben. Dieses Anwesen ist mir von Anfang an vorgekommen, wie das Paradies. Vorher gab es Tage, da hatten wir nichts zum Essen und hier gab es alles im Überfluss. Ich hatte endlich einen richtigen Vater!

Er hat mit mir gespielt, er hat mit mir gelacht, er hat mir Geschichten vorgelesen und vor allem, er hat mich getröstet, wenn ich gefallen bin und Schmerzen hatte. Roland hat mir alles beigebracht, was ich heute kann. Ohne ihn wüsste ich nicht, was aus mir geworden wäre. Er ist der einzige Vater, den ich je hatte."

„Und was wurde aus deiner Mutter, wenn ich fragen darf?"

„Sie ist vor etwa acht Jahren gestorben. Auch da war Roland für mich da. Er hat mich über den schweren Verlust hinweggetröstet. Er hat mich in den Arm genommen, wenn ich traurig war und er hat alle meine Launen ertragen. Doch diesmal habe ich niemanden mehr, der mich auffängt."

„Nun ja, deine Launen kenne ich noch nicht und kann nicht sagen, ob sie auszuhalten sind", sage ich. „Aber ich bin auf jeden Fall für dich da!"

Zum ersten Mal huscht der Hauch eines Lächelns über ihr Gesicht. Sie hat den Kopf von meiner Brust genommen und ihn ein wenig zurückgebeugt, um mir besser ins Gesicht schauen zu können.

„Meine Launen können ganz schön schlimm sein", meint sie.

„Sonst wärst du keine Frau", kontere ich.

Ich versuche sie zu necken, um sie damit auf andere Gedanken zu bringen. Es scheint tatsächlich zu funktionieren, denn sie hat aufgehört zu weinen. Ich habe den Eindruck, sie nimmt zum ersten Mal wahr, dass ich sie im Arm halte. Auch sie hat es, als selbstverständlich hingenommen. Sie schaut mich mit großen Augen an. Doch auch jetzt löst sie sich nicht von mir.

„Solche Machosprüche vertrage ich im Augenblick nicht besonders. Und außerdem passen sie gar nicht zu dir."

„Was passt dann zu mir?"

Auch mir wird erst in diesem Moment bewusst, wie angenehm es ist, Vera im Arm zu halten, ihre Wärme zu spüren, den Duft ihrer Haut und ihrer Haare einzusaugen. Vor allem ihre Schönheit wird mir erst jetzt so richtig bewusst. Sie ist noch sehr jung, aber genau mein Typ. Sie sieht einfach nur umwerfend aus.

„Nun ja, du scheinst ein sehr sensibler und einfühlsamer Mensch zu sein. Ein guter Mensch, wie dein Onkel. Sonst würden wir wohl nicht hier stehen", kommt ihre Antwort, „Allerdings bist du übermorgen wieder weg und ich bin allein."

„Ich könnte eine ganze Woche bleiben, wenn du das möchtest", biete ich an. „Und danach schauen wir weiter."

„Nachher bist du wieder in Deutschland", sagt sie nachdenklich. „Auf jeden Fall klingt eine Woche fürs Erste schon mal gut."

Dabei legt sie wieder ihren Kopf auf meine Brust und schmiegt sich eng an mich. War es vorher nur eine impulsive Geste, so macht sie es jetzt ganz bewusst. Sie fühlt sich in meiner Nähe wohl. Und genau das ist ein ganz neues Gefühl für mich. Noch nie hat mir eine Frau so deutlich gezeigt, dass ich ihr wichtig bin.

Einerseits tut es gut, andererseits verwirrt es mich aber auch, dass ein Mädchen so deutlich zeigt, dass sie gerne in meiner Nähe ist. Ich habe keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll. Vera weckt eindeutig den Beschützerinstinkt in mir. Ich drücke sie noch etwas enger an mich und genieße diesen herrlichen Körper, der sich Schutz suchend gegen den meinen presst.

Die Zeit ist im Flug vergangen und der Wein ist fertig. Auch wenn ich zum Umfallen müde bin, ich könnte noch ewig so dastehen und Vera im Arm halten. Wir entscheiden uns dennoch, schlafen zu gehen. Hätte ich sie unter anderen Umständen kennen gelernt hätte ich vermutlich alles getan, um sie ins Bett zu kriegen. Aber so käme ich mir schäbig vor, auch wenn ich zugeben muss, dass sie ein ausgesprochen heißer Feger ist.

Ich kann es nicht. Ich kann nicht den Aufreißer geben, während sie so verletzlich und Hilfe suchend ist. Natürlich hätte ich deshalb leichtes Spiel, doch ich kann nicht. Vera ist mir zu wichtig, um sie zu verletzen.

Als Arzt muss man unweigerlich eine bestimmte Distanz zu den Patienten aufbauen. Ich will nicht sagen, dass ich gefühlskalt bin. Würde man allerdings jedes Patientenschicksal an sich heranlassen, würde man früher oder später daran zerbrechen. Als Arzt hat man immer wieder mit hochemotionalen Situationen zu tun und baut fast automatisch einen Panzer um sich herum auf.

Es ist echt nicht einfach, einem Menschen zu sagen, dass er oder ein Angehöriger sterben wird. Das hat mir am Anfang viele schlaflose Nächte bereitet. Beim Studium lernt man sehr viel über den menschlichen Körper, aber auf so eine Situation wird man nicht vorbereitet. Ich habe mir eingeredet, es werde irgendwann zur Routine. Das stimmt nicht! In Wirklichkeit ist es wohl eher so, dass ich das Ganze einfach nicht mehr an mich herangelassen habe.

Das hat wohl auch meine bisherigen Beziehungen und Frauenbekanntschaften geprägt. Ich war immer nur auf ein Abenteuer, auf meine sexuelle Befriedigung aus. Die große Liebe war es bei keiner und ich habe mich gefragt, ob ich überhaupt in der Lage bin, tiefere Gefühle zuzulassen. Ich habe mir immer eingeredet, dass mir deshalb auch das Schlussmachen nie viel ausgemacht hat. Egal von wem es letztendlich ausging.

Wenn ich mein bisheriges Leben anschaue, könnte man tatsächlich zum Schluss kommen, ich sei gefühlsmäßig abgestumpft. Wie passt dann das tiefe Mitgefühl ins Bild, das ich Vera gegenüber empfinde? Ich bin noch nicht abgestumpft, ich habe Gefühle!

Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich im Bett liege und an die Decke starre. Vera hat mir einen schüchternen Gutenachtkuss auf die Wange gedrückt, als wir uns an der Zimmertür getrennt haben. Auch das beschäftigt mich.

Warum kann ich nicht schlafen? Ist es die neue Umgebung? Ich habe doch sonst nie Probleme, nicht Zuhause zu schlafen. Ich bin nicht empfindlich und brauch nicht unbedingt mein eigenes Bett. Auch die Krankheit und der nahe Tod meines Onkels gehen mir nicht besonders nahe. Dazu habe ich ihn zu lange nicht mehr gesehen.

Ist es Vera? Sind es die Gefühle, die sie in mir weckt? Noch nie hat mich eine Frau bis in meine Träume verfolgt. Vera tut es! Ich träume davon, dass wir Hand in Hand über ein Lavendelfeld laufen und sie lacht mir vergnügt zu. Wow! Für dieses Lachen könnte ich morden!