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Eine Erektion für die Ewigkeit

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Kann Susanne den irren Fluch brechen, der auf Rudi lastet?
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Kann Susanne den irren Fluch brechen, der auf Rudi lastet?

********************

Die junge Lehrerin Susanne liebt es, andere Menschen zu unterstützen. Eines Tages stößt sie auf einen Mann, der in tiefer Traurigkeit gefangen scheint. Sie setzt alles daran, sein Geheimnis zu erfahren und ihm zu helfen. Sogar, als er behauptet, verflucht zu sein. Auf eine, hm, ganz besondere Art und Weise...

Dingo666

********************

„...denke, er leidet wirklich mit dem Bild. Ich habe ihn gestern schon hier gesehen. Er sitzt immer nur vor dem einen Bild und starrt es an."

„Du hast Recht, Gisela. Ich glaube, er nimmt überhaupt nichts vom Rest der Welt wahr. Da läuft es mir kalt über den Rücken."

Susanne, die mit halbem Interesse ein getupftes Stillleben von einem gewissen Armande Bareotti studierte, sah nach links. Von dort war das Tuscheln der Frauen an ihr Ohr gedrungen.

Neben der Tür standen zwei kunstvoll frisierte Damen um die Fünfzig und sahen verstohlen zu einem Mann an der gegenüberliegenden Wand hinüber. Der stand einen Meter vor einem großformatigen Ölbild. Das Gemälde zeigte einen kleinen Jungen, der zu den verwaschenen Formen von Zelten hinter einem Zaun hinüberblickte. Ein Jahrmarkt, oder ein Zirkus. Das Werk war in kühlen, ungreifbar bedrohlichen Farben gehalten. Man konnte die Sehnsucht und die Verzweiflung des Kindes geradezu mit Händen greifen.

„Da steckt sicher eine ganz traurige Geschichte dahinter." Eine der beiden seufzte theatralisch. „Ich wüsste zu gern, was er denkt."

„Frag ihn doch, Elvira", schlug die andere vor. Beide kicherten unterdrückt und wandten sich ab.

Susannes Neugier war geweckt. Bisher war sie nur ziellos von Wand zu Wand, von Bild zu Bild mäandert, ähnlich einer Flipperkugel in Zeitlupe. „Unbekannte Meister des Impressionismus", lautete der Titel der aktuellen Ausstellung in der Alten Pinakothek, München. Der reißerische Duktus war wohl dem Zeitgeist und der chronischen Geldnot des Museums geschuldet. Mit etwas mehr professioneller Distanz konnte man die Bilder durchaus als zweitklassige Arbeiten werten. Sehr enttäuschend! Eine kleine Ablenkung kam da mehr als gelegen.

Sie musterte den Mann. Ein unscheinbarer Typ, weder dick noch dünn, weder groß noch klein. Er mochte zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahre alt sein, hatte ordentlich geschnittenes, dunkelbraunes Haar und trug eine schwarze Hose, dazu ein schwarzes Hemd. Darüber hatte er eine weite Lederjacke gezogen, ebenfalls in Schwarz. Der Reißverschluss war halb geschlossen, trotz der Wärme in den Räumen. Susanne hätte furchtbar geschwitzt in diesem Aufzug.

Der Mann hatte sich in eine fast tranceartige Konzentration versenkt. Er blickte strikt geradeaus und nahm wohl nur das Bild wahr. Er blinzelte nicht. Susanne lief ein leichter Schauer über die Haut. Das fühlte sich -- irgendwie seltsam an. Nach einem letzten Blick auf ihn ging sie in den nächsten Raum. Dabei rieb sie sich unbewusst über die Arme, um die Erinnerung an die steife Gestalt loszuwerden.

Die Räume des Museums waren an diesem Nachmittag erfreulich leer. Wenige Besucher schlenderten durch die Säle, vertieften sich in die ausgestellten Bilder, oder blätterten müßig in Führern oder Kunstbüchern nach Hintergrundinformationen. Die andachtsvolle Stille wurde nur von den gemessenen Schritten der Kunstliebhaber und ab und zu von einem Husten oder einem Flüstern unterbrochen.

Susanne stürzte sich auf das nächstbeste Bild, die Winterlandschaft eines spanischen Malers. Mal sehen, ob sie es einer Schule zuordnen und vielleicht datieren konnte, ohne auf das Schild zu sehen...

Sie ließ sich treiben, um irgendwie zurückzufinden in die entspannte Ziellosigkeit des kunstbeflissenen Müßiggangs. Bisher hatte sie den Mittwochnachmittag aus vollem Herzen genossen. Wie schön, dass die Museen nach der Corona-Pause nun wieder offen hatten.

Der April, bisher nasskalt und wechselhaft, zeigte sich zudem endlich von einer freundlicheren Seite. Das erste Mal in diesem Jahr hatte sie nach der Schule ein Kleid mit kurzen Ärmeln aus dem Schrank gezogen und war in die Stadt gefahren. Hier im perfekt temperierten Museum spürte sie den leichten Stoff kaum auf der Haut. Ein herrliches Gefühl, beinahe wie nackt.

Endlich mal raus aus dem Schulbetrieb. Endlich wieder Inspiration und Wissen tanken. Beides würde sich in den folgenden Wochen und Monaten als sorgsam geregeltes Rinnsal im Kunstunterricht über ihre Mittelstufenklassen ergießen. Vielleicht -- unter höchst günstigen Umständen und mit unfassbar viel Glück -- würde sogar ein Tröpfchen davon auf fruchtbaren Boden fallen. Würde aus einem pubertierenden Jugendlichen -- einer dieser unberechenbaren Hormonbomben voller Aufsässigkeit, Ellenbogen und wirren Ideen -- eines Tages einen ernsthaften Künstler machen. Oder eine wahrhaft suchende, liebende Sammlerin.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Das spielte kaum eine Rolle, denn sie liebte die Darstellenden Künste. Und dazu gehörten auch diese privaten Museumsbesuche. Ein Wiederauftanken, ein Luftholen. Insbesondere der Impressionismus, rief sie sich in Erinnerung. Ah, und da -- diese Konturen waren doch sicher mit einem Griffel in die noch feuchte Ölpaste geritzt worden, oder? Und...

Zehn Minuten später gab sie es auf. Die Farben und Formen auf den Leinwänden drangen nicht mehr richtig zu ihr durch, egal wie sehr sie sich darauf konzentrierte. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie ihre Gedanken um den mysteriösen Fremden kreisten. Sie fragte sich, ob er wohl einmal selbst zu einem Zirkus gehört hatte. Ob eine unglückliche Liebe dahintersteckte? Eine Tragödie in der Familie? Was musste geschehen, um einen Mann so zu treffen, dass er derart auf ein Bild fixiert war? Eines, das beim besten Willen nicht als künstlerisch besonders wertvoll gelten konnte?

Vorsichtig pirschte sie sich an und spähte in den Durchgang. Richtig, er war noch da, ganz alleine in dem Raum. Nun saß er auf der quadratischen Lederbank in der Mitte und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Die stumme Verzweiflung in seiner Haltung rührte Susanne eigentümlich an.

Sollte sie ihn ansprechen? Einen Fremden? Es war ihr schlechterdings unmöglich, so viel Elend zu ignorieren, wenn es vor ihr lag. Sie spürte immer, wenn ein Kind in ihrem Unterricht traurig war, und kümmerte sich dann besonders darum. Das war es doch, was den Job als Lehrerin so lohnend machte, oder?

Bevor sie wusste, was sie tat, war sie zu ihm hinüber gegangen und hatte ihm sanft eine Hand auf die Schulter gelegt. Für eine Sekunde reagierte er nicht. Dann zuckte er zusammen und blinzelte zu ihr auf. Seine braunen Augen glänzten leicht gerötet, so als ob er gerade erst von einem Fieber genesen wäre. Er wirkte wie ein großer, trauriger Hund, der tagein, tagaus voll Aufopferung den Hof bewacht hatte, und den der hartherzige Besitzer nun fortgejagt hatte.

Susanne lächelte tapfer und machte den Mund auf. Erst dann fiel ihr auf, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was sie ihm sagen wollte.

„Äh -- bitte entschuldigen Sie", brachte sie heraus und ließ seine Schulter los, als sei diese plötzlich siedend heiß. „Ich... ich habe mich nur gefragt, warum dieses Bild sie so fasziniert." Sie verstummte und schaute beschämt zu Boden, Hitze in den Wangen.

„Oh!", stotterte er, wohl ebenso überfordert von der plötzlichen Notwendigkeit zur Konversation. „Das... ist nur eine alte Erinnerung, nichts weiter." Sein Ton machte deutlich, dass er keinen Wert auf eine Unterhaltung legte.

„Das muss eine schwere Erinnerung sein." Susanne räusperte sich und schimpfte innerlich. Warum fand sie nicht die richtigen Worte? Er sollte doch verstehen, dass sie gerne verstehen würde. Mit ihm fühlen. Die Last mit ihm tragen, möglicherweise.

„Das stimmt." Der Mann seufzte abgrundtief und sah wieder das Bild an. „Sehr schwer, und sehr alt."

Die Bitterkeit und Verzweiflung in seinen Augen hielt Susanne kaum aus. „Kommen Sie. Ich lade Sie auf einen Kaffee ein", lächelte sie krampfhaft. „An so einem schönen Tag sollte niemand düstere Gedanken hegen. Manchmal hilft es ja, einfach darüber zu reden."

„Reden?" Er schnaubte verächtlich. „Das ist ungefähr so hilfreich wie ein Furz in einem Orkan."

Susanne biss sich auf die Lippen. Seine Ablehnung traf sie mitten ins Herz. Sie schluckte und wandte sich ab.

„Oh, bitte entschuldigen Sie."

Er sprang auf und legte ihr die Hände von hinten um die Oberarme.

„Ich muss wirklich um Verzeihung bitten." Echte Zerknirschung schwang in seiner Stimme. „Ich... Es tut mir leid. Ich wollte sie nicht kränken. Sie meinen es sicher gut. Sie können ja nicht wissen..."

„Schon gut", flüsterte Susanne mit verdächtig brennenden Augenwinkeln. „Ich habe mich aufgedrängt. Bitte verzeihen Sie das."

„Nicht doch." Seine Hände drückten zu. Sanft, doch sie spürte die kontrollierte Kraft dahinter. Seine Stimme, ganz leicht heiser, und dicht an ihrem Ohr. „Bitte seien sie mir nicht böse. Ich bin eben ein alter Idiot."

„Schon gut, schon gut."

„Sie sind böse." Er seufzte, als würde dies das Gewicht seiner Last nur weiter erhöhen. „Geschieht mir recht."

„Nein!", protestierte sie, etwas verwirrt, und wandte sich um. Er ließ seine Hände fallen wie tote Gewichte und starrte sie an, offenbar ähnlich verdutzt über den Gesprächsverlauf wie sie. Dann lächelte er, und plötzlich wirkte sein Gesicht offen und jung, ja geradezu kindlich.

„Wissen Sie was? Ich lade Sie auf einen Kaffee ein. Bitte gestatten Sie mir, mich damit für mein ungebührliches Benehmen zu entschuldigen."

Sie lächelte unwillkürlich zurück. In automatischer Resonanz, und auch wegen seiner altmodischen Wortwahl. Seine Pupillen öffneten sich leicht. Die Temperatur im Raum stieg um zwei Grad an.

„Rudolf Groß." Er streckte ihr die rechte Hand hin. „Rudi, für meine Freunde. Aus Fürth."

„Susanne", murmelte sie und schüttelte ihm die Hand. „Susanne Bicking. Ich komme aus Mühldorf."

„Ah." Seine Augen leuchteten auf. „Sie fahren auch extra nach München, um ins Museum zu gehen?"

„Ja. Sie auch?"

„Aber sicher!"

Zehn Minuten später saßen sie über Eck an einem Tischchen im Museumscafé. Hinter ihnen hingen die Plakate vergangener Ausstellungen, vor ihnen standen zwei leere Cappuccinotassen. Die vom Mobiliar erzwungene Sitzordnung erzeugte eine Nähe, die Susanne anfangs unangenehm war.

Aber Rudi machte nicht den geringsten Anstalten, ihr irgendwie näher zu kommen. Er trug sogar noch seine Jacke. Dieser Panzerschutz musste wichtig für ihn sein, denn ihm war durchaus warm, wie glitzernde Schweißtröpfchen auf seiner Stirn anzeigten. Nur den Reißverschluss hatte er beim Hinsetzen geöffnet.

Dafür war der Mann ein fantastischer Zuhörer. Er hatte das Kinn auf einen Arm gestützt und lauschte so konzentriert auf ihre Worte, als hinge sein Leben davon ab. Susanne fühlte ein leichtes Schwirren im Kopf. Sie hatte ihm nicht nur von ihrer Schule, von den Kollegen und von ihrer kleinen Wohnung erzählt, sondern auch von ihrer Mutter, von ihrem letzten Freund -- Johannes, dem Verräter! -- und von ihrer Katze Tipsy, die letztes Frühjahr gestorben war. Dieses eigentümlich ziehende Gefühl in ihrem Magen -- kam das von den tiefbraunen Augen, die sie unverwandt ansahen, von dem Knie, das immer wieder gegen ihres stieß, oder von dem verständnisinnigen Nicken, mit dem er ihre Worte immer wieder quittierte?

„Jetzt rede ich schon wieder so viel", lachte sie scheu. „Was ist mit Ihnen?"

„Da gibt es nicht viel zu berichten." Er blickte auf seine verschränkten Hände. „Ich bin technischer Ingenieur und Experte für Strömungsüberwachung. Oft bin ich im Ausland unterwegs. Ich werde als Spezialist gerufen, wenn es in großen chemischen Anlagen Probleme mit den Rohrsystemen gibt. Das ist ganz interessant, so herum zu kommen."

„Ist das nicht belastend für ihre Familie?", wagte sie sich vor.

Er schnaubte wieder, ein Laut wie eine Grabinschrift. „Ich habe niemand." meinte er still und ohne sie anzusehen. „Keine Frau, keine Kinder, keine Eltern. Ich bin alleine. Nicht mal eine Katze, bei meinem Lebenswandel."

„Das tut mir leid." Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. „Sie klingen so... traurig."

Er zuckte nur die Schultern.

„Hat es... irgendetwas mit dem Bild zu tun?"

„Nein." Er seufzte. „Oder doch, eigentlich schon. Aber... nein, nicht direkt."

„Nun kommen Sie schon." Sie versuchte es mit einem kumpelhaften Ton. „Muss ich Ihnen jedes Wort aus der Nase ziehen?"

Er lächelte schwach. Eher als Anerkennung ihres Aufheiterungsversuchs als echte Fröhlichkeit.

„Besser nicht. Sie würden mir ohnehin nicht glauben."

„Woher wissen Sie das?" Susanne fühlte sich herausgefordert.

„Ich weiß es. Bestimmt."

„Das ist doch Quatsch."

„Nein, ist es nicht."

„Doch."

Sie zog ihre Hand zurück und lehnte sich nach hinten.

„Wie Sie wollen."

Seine Schultern sackten nach unten. Er rieb sich mit einer Hand über die müden Augen.

„Ich muss mich schon wieder entschuldigen." Seine Stimme war nur ein Flüstern. „Es... es ist nicht ihretwegen. Sie sind nett. Aber ich habe schon so viele Enttäuschungen erlebt. Ich weiß nicht, ob ich noch mehr davon aushalte."

„Ich verspreche, ich werde Sie nicht enttäuschen", sagte sie ernsthaft und meinte das auch so. Ihr Herz klopfte schneller. Ja, sie würde diesem geheimnisvollen Fremden helfen. Sie würde schaffen, was niemand zuvor geschafft hatte. Ganz bestimmt!

„Du leidest unter einem Helfer-Syndrom!", seufzte ihre Mutter oft. Die war Augenärztin in München, und übertriebene Hilfsbereitschaft hatte ihr noch niemand unterstellt. Susanne verteidigte sich nicht gegen den Vorwurf. Schließlich gab es nun mal nichts Schöneres, als bei anderen Menschen die Früchte der eigenen Bemühungen aufblühen zu sehen, oder? Egal, ob es sich um Schulkinder oder um Zufallsbekanntschaften handelte.

Seine Augen musterten sie. Fragend. Forschend. Suchend. Sie hielt seinem Blick stand.

Endlich deuteten seine Mundwinkel ein Lächeln an. „Also gut." Er holte tief Atem. „Aber sagen Sie nicht, ich hätte sie nicht gewarnt."

Sie nickte eifrig und beugte sich nach vorne. Genau wie er. „Helfer-Syndrom!", spottete eine geisterhafte Stimme in ihrem Hinterkopf, aber sie verbannte diese in eine dunkle Schublade.

„Ich bin verflucht." Seine Stimme klang dunkel.

„Ver... flucht?!"

„Genau." Wieder dieses Schnauben, das einem in der Seele weh tun konnte. „Seit über vierzig Jahren."

„Das... das kann nicht sein", wandte sie ein. „So alt sind Sie doch noch gar nicht."

„Ich bin zweiundsechzig Jahre alt."

„Unmöglich!", lachte sie und ließ ihren Blick prüfend über sein Gesicht wandern. „Fünfunddreißig, sechsunddreißig, hätte ich geschätzt. Maximal vierzig. Aber zweiundsechzig? Das können Sie mir nicht erzählen."

Er sah sie an und nickte, als bestätige sie mit ihren Worten nur einen lange gehegten Verdacht.

„Sehen Sie?", meinte er leichthin. „Ich habe noch kaum angefangen, und schon glauben Sie mir nicht."

„Aber..."

Er brachte sie mit einer Geste zum Schweigen und griff in die Jacke. Eine abgegriffene Lederbörse kam zum Vorschein. Er öffnete sie, nahm etwas heraus, und warf es ihr hin. Sein Personalausweis. Noch ein alter, aus verblichenem Karton, keine Plastikkarte.

Susanne nahm ihn mit spitzen Fingern.

Das blasse Foto zeigte ihn kaum jünger, wenn auch auf ungreifbare Weise anders. Daneben stand: „GROSS". „RUDOLF ERICH". Und darunter als Geburtsdatum und --ort: „29.03.1960 ERLANGEN". Außerdem die üblichen weiteren Nummernfolgen und Daten. Der Ausweis war vor mehr als zwölf Jahren ausgestellt worden.

Mit großen Augen sah sie zu ihm auf. Er grinste schwach.

„Hab mich gut gehalten, was?", meinte er in einem scherzenden Ton, den sie ihm nicht abkaufte.

„Unglaublich", flüsterte sie. „Gehört das auch zu dem... Fluch?"

„Ich denke schon." Er seufzte und stützte sein Gesicht in die Hände. „Ich altere sehr langsam. Immer langsamer. Inzwischen fast gar nicht mehr. Vielleicht, um meine Strafe bis in alle Ewigkeit zu strecken."

Susanne rann ein kalter Schauer an der Wirbelsäule hinunter, sie konnte kaum atmen. Auf welches unsägliche Geheimnis war sie hier nur gestoßen? Solche Geschichten gab es doch nur in den historischen Romanen, die sie manchmal las. Heimlich, denn das war ja nur romantischer Kitsch, der sich für gebildete Leser kaum ziemte.

„Was ist geschehen?", fragte sie leise.

„Es war im Sommer 1979." Er starrte geradeaus, den Blick nebelverhangen. „Da war ein Zirkus in der Stadt. Einer von den kleinen, die es heute gar nicht mehr gibt. Ich habe damals als Aushilfe bei einem Partyservice gejobbt, um mein Studium zu finanzieren. An dem Tag war es mein Job, eine Horde von Zehnjährigen in den Zirkus zu begleiten, damit die Eltern ungestört feiern konnten. Da war dieses schwarzhaarige Mädchen an der Kasse. Sie lachte so strahlend, als ich die Karten löste, um mich herum die ganze Rasselbande. Später sah ich sie dann am Trapez. Und bei der Pferdenummer. Sie war zauberhaft!"

Rudi lächelte versonnen vor sich hin. Susanne nickte mit klopfendem Herzen. Hoffentlich hörte er nicht auf. Hoffentlich erfuhr sie die ganze Geschichte!

„Abends bin ich wieder hin, alleine. Ich habe mir die gleiche Show nochmal angeschaut. Sie hat es bemerkt und mich wieder gelächelt. Als ich sie dann nach dem Auftritt abgefangen habe, war sie gleich bereit, mit mir noch in die Stadt zu gehen. Ihr Name war Tshaya. Oh, Tshaya!"

Er vergrub das Gesicht in die Handflächen, eine Geste voll stummem Schmerz.

„Wir hatten Spaß", fuhr er fort, mit sichtlicher Anstrengung. „Dann wollte ich sie küssen. Sie mich auch. Es war auf einem Parkplatz hinter irgendeiner Kneipe. Ziemlich spät, außer uns war kein Mensch mehr auf der Straße. Wir haben uns umarmt und geknutscht und gestreichelt -- das war der herrlichste Abend in meinem ganzen Leben." Er warf ihr einen schnellen Blick zu. „Ich hatte zu der Zeit noch nicht viel Erfahrung mit den Frauen."

Sie nickte, voll absorbiert in die stockende Erzählung.

„Ich wollte mehr. Sie nicht. Sie wollte nach Hause. Zurück zum Zirkus." Er starrte zu Boden. „Ich ließ sie nicht. Ich habe sie gezwungen."

„Mein Gott", flüsterte Susanne und schlug eine Hand vor den Mund. Wollte er wirklich sagen, dass...?

„Sie hatte einen kurzen Rock an", murmelte er dumpf. „Ich hielt sie gegen ein Auto gedrückt. Einen Ford Granada. Den gelben Farbton des Lacks werde ich nie vergessen. Tshaya hat sich gewehrt wie eine Katze. Ich habe nur gelacht und sie festgehalten. Dann hat sie den Kopf zur Seite gedreht und mich machen lassen. Sie hat überhaupt nicht reagiert, als ich sie vergewaltigt habe."

Er verstummte. Susanne wusste nicht, was sie denken oder sagen sollte.

„Sie hat auch danach kein Wort gesprochen. Ich habe sie zum Zirkus zurückgebracht. Mich entschuldigt. Sie hat so getan, als sei ich gar nicht da. Ist einfach mit hoch erhobenem Kopf und zerrissener Bluse reingegangen.

Am nächsten Nachmittag warteten schon drei dunkelhäutige Typen auf mich, als ich aus der Uni kam. Ich leistete keinen Widerstand, als sie mich in ein Auto packten und zum Zirkus fuhren. Ich hatte gehört, wie Zigeuner mit solchen Ehrensachen umgehen. Ehrlich gesagt rechnete ich nicht damit, wieder lebend heim zu kommen. Ich war sogar einverstanden. Ich... ich wollte nicht mehr leben. Nicht als Vergewaltiger."

Rudi sah sie an, mit Augen wie gähnende Löcher. Unwillkürlich legte sie eine Hand auf seine verkrampften Finger. Er schien es nicht zu bemerken.

„Aber sie brachten mich nur in einen der Zirkuswagen, zu einer steinalten Frau. Eine richtige Hexe, schlohweißes Haar und fast blind. Sie hat etwas zu mir gesagt, das ich nicht verstand, und ein Pulver oder so über mich gestreut. „Urgroßmutter Zita verflucht dich wegen deiner Geilheit." hat der eine Typ mir erklärt. „Du sollst ab sofort ständig geil sein, aber niemals wieder Befriedigung finden, bis eine wahrhaft selbstlose Seele sich deiner annimmt und dich erlöst." Dann wurde ich wieder ins Auto gesteckt und bei der Uni abgesetzt. Zwei Tage später hat der Zirkus seine Zelte abgebaut und ist verschwunden."