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Labyrinth

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(Aus: 'Erinnerungen und Briefe')
4.2k Wörter
3.5
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Andy43
Andy43
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© 2013 by Andy43

Labyrinth

Ihren Kopf an meine Beine gelegt, lag sie ausgestreckt auf der Couch. Meine rechte Hand ruhte auf ihrem Bauch, während ich mit dem anderen Arm auf der Lehne gestützt, mein Skript in der Hand hielt.

Sie lag entspannt, rekelte sich in eine bequeme Position, holte leise Luft und genoss den sanften Duft der Kerzen, deren Licht den Wein in unseren Gläsern in ein glühendes Rubinrot verwandelte.

„Bitte, ich wäre soweit."

Ich schmunzelte, konzentrierte mich auf ihre sanften Atemzüge, welche meine Hand wiegte, legte jenen weichen Rhythmus in meine Stimme und begann ihr vorzulesen.

*

Ich nahm einen Schluck Cappuccino und schaute ihr zu, wie sie nach ihrer Tasse tastete.

„Was machst du, wenn du nicht liest?"

„Du meinst, meine anderen Hobbys?"

„Zum Beispiel."

„Ich bin gerne in der Natur, reise gerne, schaue mir die Welt an, wenn es nicht weit hinaus geht."

Sie lächelte.

„Ich verstehe, was du mir sagen willst, geht mir genauso."

Ich begann mich zu hüten, behielt mich im Auge und achtete darauf, mich mit meiner Wortwahl ihr gegenüber besser in den Griff zu bekommen.

„Du bist ein Naturbursche."

Ich lächelte und ahnte worauf sie anspielte.

„Ich reise, um zu Wandern."

„In den Harz?"

Wir lachten beide.

Sie schaute an mir vorbei und nippte an ihrem Kaffee.

„War nicht zu übersehen", meinte ich.

Sie lachte.

„Du hast dich gewundert. Es sind die rätselhaften, erhabenen Punkte, die das Leben aufregend machen, wie die auf den Buchrücken. Ein Gehstock für meine 'Augen'", deutete sie an.

Ich wollte mich entschuldigen, begriff in ihren Worten, dass es unnötig war; es wäre idiotisch gewesen.

„Da haben wir etwas gemeinsam", erwiderte sie fröhlich. „Ich gehe gerne in die Natur, in geführten Gruppen. Wenn ich alleine unterwegs bin auf Wegen, die mir sicher genug erscheinen. Alles andere muss ich mir erträumen."

Ich schaute sie an, während mir der letzte Satz noch in den Ohren klang, holte tief Luft und kam bei ihrem Anblick ebenfalls ins Träumen. Ihre schönen Augen waren ein Blickfang, und nicht allein diese. Ich musste mir eingestehen, dass mich ihre gesamte Erscheinung elektrisierte, und das äußerte sich in einem Bauchgefühl, welches sich kribbelnd in alle Richtungen ausbreitete. Gut, dass sie es nicht mitbekommt, dachte ich, während ich intensiv in den Ausschnitt ihres dünnen Sommerkleides blickte. Es war hinterhältig. Ich wollte in diesem Moment ein Voyeur sein. Was macht es einen Unterschied, eine 'Teufelsblume' neugierig zu betrachten, oder diese faszinierende Frau, die mit ihren weiblichen Fangarmen nach mir fühlte. Ich war wie alle Männer. Natürlich geeicht.

Sie war rein körperlich eine aufregende Frau und ich konnte nicht anders, als sie mit den Augen zu betrachten.

Mich beschlich bald das Gefühl, ihr nicht gewachsen zu sein.

„Du liest viel?", besann ich mich.

„Was es für mich gibt, ansonsten besorge ich mir Hörbücher. Es ist wunderbar die Geschichten zu hören, bei einem Glas Wein im Kerzenlicht."

Sie lachte leise.

„Duftkerzen", fügte sie hinzu und hob die Augenbrauen an.

Ich schmunzelte.

„Du hast eine schöne, akzentuierte Stimme, wie geschaffen jemandem vorzulesen."

Ist das jetzt eine Anspielung, dachte ich und wurde nervös. Ich konnte mir vorstellen ihr vorzulesen, bei einem Glas Wein im Kerzenlicht.

„Danke, für das Kompliment. Das hat mir noch keine Frau gesagt".

Meine Anspielung veranlasste sie zu einem vergnügten Lachen.

„Wir werden sehen, was sich noch alles entwickelt", flüstere sie und schmunzelte. „Wenn ich jemanden erkennen will, bin ich auf ein Gespräch angewiesen. Die Stimmlage ist wichtig. Will ich ihn sehen, mache ich das mit den Händen."

Ich betrachtete ihre grazilen Hände. Mir wurde deutlich, ich war ihr nicht gewachsen und bekam Angst, das Gespräch könnte ins Stocken geraten.

„Was machst du beruflich?"

Ich schluckte.

„Ich bin ein Gärtner."

„Oh, wie schön, ein toller Beruf."

„Na, wie man es nimmt."

„Verstehe, es kommt auf die Jahreszeit an."

Ich lachte.

„Gewiss. Ich mag den Frühling und den Sommer, den Herbst weniger und den Winter gar nicht. Alles hat einen besonderen Reiz und seinen Sinn. Es kommt nicht auf die Jahreszeit an, es ist abhängig von dem Ort, an dem ich arbeite. Ich meine damit; es sind nicht die verträumten, lebensfrohen Gärten, in denen alles in voller, überschwänglicher Blütenpracht steht. Es sind schlichte Gärten darunter, solche, die man nicht gerne betritt."

Sie runzelte die Stirn und dachte für den Bruchteil eines Augenblicks nach.

„Ich glaube zu wissen, was du mir sagen willst. Sag' s mir nicht. Lass mich raten:

Im Herbst kann es bedrückend sein, weil man sich klar machen muss, dass es im Winter zu spät sein wird und man nichts mehr tun kann. Du hoffst auf den Frühling, der alles lebendig werden lässt, dich zur Arbeit ruft. Mit der Gewissheit, dass es irgendwann nicht mehr dazu kommen wird."

Wie kann sie das?, fragte ich mich. Wie macht sie das? In diesem Moment fühlte ich mich auf Augenhöhe mit ihr und bekam eine Gänsehaut.

„Es ist Arbeit. Verstehst du? Es ist planen, anlegen, harken, zupfen, pflanzen, gießen. Die alltägliche Betriebsamkeit. Doch hin und wieder ein Bestaunen und ehrfürchtiges Bedenken. Wenn ich den zusammengekehrten Haufen vertrockneter Blätter sehe, die Blumen, die verwelkt in den Vasen hängen, sie auf den Kompost werfe, berührt es mich und es fehlen mir die Worte. Dann fühle ich mich als Teil der Natur. Aber ich möchte im Augenblick nicht über dieses Thema sprechen. Nicht jetzt. Es ist viel zu früh, ich meine, zu schön."

Ich lachte halblaut, signalisiert ihr somit, wie ich es meinte, nahm einen Schluck kalten Cappuccino und setzte die Tasse ab.

Ihre zarte Hand suchte über den Tisch in meine Richtung und berührte meine Finger.

„Viel zu früh. Dieser Sommer könnte ein erster, wahrhaftiger Frühling sein."

Wir lachten vergnügt. Mir klang es wie süßer Spott für meine bitteren Gedanken.

Sie tastete über ihre Armbanduhr.

„Ich zumindest glaube nicht, dass es hierfür zu spät sein könnte. Ich muss jetzt leider gehen. Es wäre schön, dich wieder zu sehen. Wie sieht' s mit dir aus?"

Wenn Frauen ansehnliches begehren, hört es sich genauso an wie jetzt, dachte ich und fühlte mich erlöst.

„Gerne."

„Bringst du mich zum Bus?"

„Nein, ich fahre dich, wenn' s dir recht ist."

„Danke, es ist mir recht. Ich nehme dich an die Leine und du zeigst mir, wo es lang geht."

Sie gefiel mir. Nicht allein ihr Humor.

*

Es trieb mich heraus aus meinem Schneckenhaus. Ich streckte meine Fühler aus und verbrachte eine paar Stunden in der wahren Natur, wenn ich mir Klarheit verschaffen wollte. Dazu entfernte ich mich aus dem Trubel der Stadt, stellte meinen Wagen an den Waldrand und begab mich in stummen Selbstgesprächen auf den Weg.

Ich fühlte mich unwohl bei dem Gedanken an unser Gespräch in dem kleinen Café am gestrigen Tag. Nicht, dass ich unhöflich gewesen wäre, doch waberte in mir ein nebliges Gefühl.

Ich sitze einer geistreichen, lebenslustigen Frau gegenüber und vermittle ihr das Bild eines einsamen, alten Mannes beim Entzünden einer Grabkerze. Das bist du nicht. Mensch, mit deinen vierzig Lenzen stehst du voll im Saft und hässlich bist du auch nicht. Obwohl, es war ihr nicht wichtig, fiel es mir ein. Du hast mit Worten geglänzt, die dir nicht leicht über die Lippen kommen. Ja, wahrscheinlich war es das. Die besondere Stimmung. Wie sagte sie noch: Die Stimmlage. Sie hört auf die Zwischentöne. Sie hat einen besonderen Sinn.

Ich dachte an die Frauen, mit denen ich einen Teil meines Lebens verbracht hatte. Es war schön mit ihnen. Ich gestand mir ein, dass es Momente gab, in denen ich gerne mehr von mir gezeigt hätte. Einen Wesenszug in mir, der ihnen melancholisch schien. Eine tiefe, reife Bedenklichkeit, die ich anders empfand, als sie es sahen. So schwieg ich in mich hinein.

Es ist ein Schwingen, ein lautloses Schweben und kein dunkler Schatten am Himmel. Eine Lärche in der Luft, die ihr Nest baut. Ich suche wie sie nach Sinn. Ein intimer Blick ruht auf meiner Seele; kommt wie ein sanftes Fühlen auf jenen dünnen Zweig herab und beäugt mich.

Ich bin auf dem Weg mit mir, wenn ich entspannt auf der Wiese liege. In meinem Garten. Des Nachts, nach einem heißen Tag. Im Mitternachtsblau ist es am Schönsten. Auf dem noch warmen Boden zu liegen, ist himmlisch.

Die Erde genügt mir, die mich zu sich zieht. Ich weiß nicht, wie es geht, wie sie es macht. Mir ist klar, dass es sie gibt, ich fühle sie. Ihre Anziehung auf mich. Diese Schwere in der ich mich gründe, ist wie ein Duft, der in den Himmel steigen will. Würde mich jemand auf meiner nächtlichen Reise zwischen den umfriedeten Beeten auf dem Rasen liegen sehen, riefe er den Notarzt. Niemand, der mich kennt, käme auf meine Idee.

Es ist wie ein Sich-gehen-lassen, ohne irgendeinen Schritt zu tun, ein Treiben, ohne getrieben zu sein. Alleine zu sein, ohne sich einsam zu fühlen. Man ruht in sich. Ich glaube, dass unsere Welt im Geiste entsteht, verbunden mit einem tiefen Gefühl, das unserer Sehnsucht entspringt. Es verhält sich mit einer Waage, wie die am Sternenhimmel. Unendlich weit weg und nahe in mir. Ein ewiges Gefühl sollte es sein. Liebe macht Sinn, wird es mir in jenen Momenten deutlich. Es ist die einzige Antwort, die ich hierfür finden kann, ohne sie in Worte kleiden zu können.

Ich kannte den Weg, war ihn oft gegangen. Entdeckte dennoch neues, nicht allein in mir.

Ich trat in den Mischwald, der zum Teil bewirtschaftet wurde und an wenigen Stellen der Natur überlassen blieb. Reservate für Fauna und Flora. Dahin zog es mich. Bald an reifen Kiefern vorbei, die älter waren als ich, sich weit in den Himmel reckten und bald, mit roten Bändchen markiert, den Stand erreicht haben dürften, um geerntet werden zu können. Sie schauen ängstlich auf die jungen Triebe in der Schonung nebenan, die unbändig nachrückend, in Reihe und Glied beieinander stehen, dachte ich. Frisches, unbedarftes Grün, neben der trügerischen Überheblichkeit des Alters, sinnierte ich und schaute an narbiger Borke hinauf in die hohen Wipfel. Ob sie wissen, warum sie hier stehen? Ich stehe auf halber Höhe dazwischen, konstatierte ich.

Eine blinde Frau, kam es mir in den Sinn und verdammt hübsch. Worauf kommt' s mir an? Man kann perfekt sein, wenn einem etwas fehlt, lächelte ich in mich hinein. Das soll kein Trost sein. Es ist wahr, wahr wie eine weiße Rose.

Jeder Mann sucht für sich nach einer idealen Frau. Mir kamen die unzähligen Rosenzüchtungen in den Sinn und ihre eleganten Bezeichnungen. Sie klingen, wie sie aussehen sollen. Sie sind sie schön, wie sie es an sich selbst sind. Jede auf ihre unnachahmliche Weise. Das macht jede einzigartig. Nicht ihr Klang. 'Souvenir de la Malmaison', 'Amethyste' murmelte ich in mich hinein. Schönheit kennt viele Namen. Ich erinnerte mich.

Wir suchen im Grunde nach Harmonie. Nach Worten. Gleichklang in allem was wir sehen. Ich schmunzelte. Schönheit ist eine Frage des persönlichen Geschmacks, und jene erahnte, universelle Vollkommenheit, mündet in ein unentwegtes, sehnsuchtsvolles Streben hin zu einer Urform. Jeder geht auf seinen Wegen und sucht nach jenem Ort, um sie zu finden. Die wahre Liebe seines Lebens. Die Natur bleibt in ihrem Streben darin unerreicht. Sie bringt es hervor. Ich glaube, sie denkt nicht darüber nach. Sie macht es, ohne es wissen zu wollen. Es wird erst zum Problem, sobald man sich dessen bewusst wird. Die Natur hat sich nichts gedacht, als sie uns hervor brachte. Ich war mir dennoch nicht sicher.

Nachdenken ist schädlich, wenn es um Gefühle geht, und erst beim Thema Liebe, resümierte ich. Warte ab. Noch ist es Interesse. Zumindest wollen wir uns wiedersehen. Es wurde Zeit die wahre Natur zu erreichen, und so beschleunigte ich meine Schritte in Richtung meines eigentlichen Zieles. Und es kam mir der Gedanke, ihr könnte es gefallen an einem solch mystischen Ort. Zusammen mit mir. Es könnte eine Wende sein.

'Wie ein erster, wahrhaftiger Frühling', klangen ihre Worte in mir nach. Ich wollte es heraus finden.

*

Liebe treibt besondere Blüten. Es ist die Vorfreude darauf, wenn man am Anfang zarte Sprosse sieht. Es gilt, sie zu pflegen. Ich warf mich in Schale, legte einen Hauch dezenten Parfüms auf und freute mich auf ein Wiedersehen mit ihr. Ein nächstes, vorsichtiges Kennenlernen, könnte ein geduldiger, weiterer Schritt auf einem längeren gemeinsamen Weg sein, hoffte ich. Ein allmähliches Entfalten bis hin zum ersten vollen Duft.

„Hoffentlich bist du stark genug", hob sie an und lachte.

„Keine Angst, du bist mir federleicht, wie eine Lärche."

Ich musste sie bald tragen. Der lichte, breite Weg, wandelte sich unverhofft zum verschlungene Pfad und schien den Augen allmählich zu einem Irrweg zu werden. Konnten ungeübte Wanderer dem Glauben verfallen, dass dieser ausgetretene Weg zu einem strittig schmalen Grad werden dürfte, sobald sie auf das täuschend dichte Blattgespinst der hohen Farne und dornige Ranken träfen. Mich konnte es nicht mehr täuschen. In Wahrheit begann die Reise erst an jenem Punkt, wo ich meine Zuversicht, meine blinde Hoffnung erheben musste. Sie seelenruhig über wild wuchernde Stellen geleitete, oder sie, in meinen Armen haltend, über alte, knorrige Wurzeln trug, die sich, dem unsichtbaren Ziele näher kommend, meiner Sehnsucht wie knöcherne Finger aus modriger Erde entgegen reckten, ungeübte Schritte in Furcht zu binden suchten und uns zur Umkehr mahnten.

Trotz aller Mühen und Widerstände erreichten wir zusammen jenen unberührten Ort inmitten der Natur, der einzig von jenen Menschen zu finden war, die diesen feinen Zauber in sich spürten.

Dieser Zauber führte uns an eine Stelle, von der man einen seligen Blick genießen konnte. Ein von Moos bewachsener, verwitterter, monumentaler Fels lud zur Stille ein.

Wir setzten uns auf ihn und kamen langsam zur Ruhe.

„Ich bin aufgeregt", meinte sie, „niemals habe ich eine solche Expedition unternommen."

Ich lachte leise.

„Kann ich mir denken, für eine Frau wie dich, scheint es ungewöhnlich, wenn sie auf Händen getragen wird."

Sie ertastete meinen Arm, ergriff meine Hand, umschloss sie und zog sie hinüber auf ihren Schoss.

Wir schwiegen lange und nahmen das Angebot der beredten Stille an, auf die wir horchten.

„Wie ein Hörspiel", flüsterte sie staunend. „Ich höre die Käfer krabbeln, die Tropfen tanzen, die Raben schweben. Das Fallen der Blätter, ihr leises Knistern, wenn sie aus den Wipfeln springen und den Boden berühren. Ist es durch den streichenden Wind, das wohlige, herbstliche Aufatmen der Bäume; ist es ihre sich reckende, raue Borke im Morgenlicht, ist es das alles zugleich oder ist es die unendliche Stille?"

Es gib viele Sprachen, viele Worte, die wir nicht verstehen. Doch gibt es einen natürlichen Geist darin, der zu uns allen spricht. Er kommt ohne Worte aus. Dieser stille Klang ist es, der uns verstehen lässt. Universell in uns, begriff ich ihre Worte. Danach lauschte sie. Nicht der Blinde ist zum Hören verdammt. Es ist der Spachlose.

„Wo sitzen wir hier?", fragte sie leise.

„Stell dir eine hohe Klippe vor, die eine kryptische Grenze zieht, wie die erste Stufe einer Treppe, hinein in eine vage Zukunft. Du kannst mutig an ihren Rand treten oder versuchen, sie wie eine Barriere zu umgehen."

„Du bist nicht hinterlistig genug, um mich in die Irre zu führen", lachte sie vergnügt und drückte meine Hand. „Ich habe keine Angst vor einem Schritt ins Leere, wenn du mich hältst. Wohin führt sie?"

„Tiefer hinein. Nach oben."

„Ein Rätsel", schmunzelte sie.

„Der Irrgarten der Erkenntnis. Es ist kein Schritt ins Leere, eher ein Tasten im Dunklen, an dessen Ende ein unscheinbares Licht leuchtet. Mir geht es nicht anders als dir, jedoch halten wir uns an der Hand."

„Ist dies das kleine Licht?"

Ich bin ihr nicht gewachsen, dachte ich. Besser wäre es, ich würde ihr zuhören.

„Betrachten wir es als den funken Hoffnung", erwiderte ich.

Sie lachte.

„Von dieser Klippe aus hat man keinen weiten Blick?"

„Einen Augenblick auf das, was man zu hoffen wagt, ein stummes Angesprochen-Sein."

Sie rückte näher an mich heran, wie eine leise Aufforderung, es ihr mit Worten zu beschreiben.

So begann ich:

„Am frühen Morgen, wenn der kalte Nebel sich verflüchtigt und ein anderer Tag anbricht, offenbart sich die Natur. Wie jetzt. Die Sonnenstrahlen fluten durch die Wipfel. Blendend gelb. Es ist wie eine Bühne. Ein Vorhang fällt. Alles beginnt zu leuchten und flirrt im Licht. Opulente Farben quellen jäh aus schweigsamer Nacht hervor. Alles wird belebt.

Das Grau in Grau des Mondes weicht allmählich, schmilzt zu goldglänzender Patina, bekränzt gewebt in edle Fäden, das erhabene, königliche Haupt der Bäume und es spricht aus weiter Ferne erste, zarte Hoffnung zu.

Silbrig weiße Tropfen hängen in den Netzen, die im Unsichtbaren fangen, perlen sich auf lichtem Samt. Zerstäuben jeden Strahl in Farben, gleiten auf den weichen Boden oder hüpfen tanzend auf das Moos der alten, unbekannten Stelen. Ein elegantes Spiel. Mit leisen Tönen in der Frühe, doch wird' s im hohen Ruhm des Tages, zu einem kräftigen Gesang. Es ist zunächst ein Staunen, als Antwort auf ein leises Lauschen und wird zum ersten Flügelschlag der Hoffnung.

Wenn sich zwei Menschen finden, ist es, als ob zwei Bäume beieinander stehen. Sie geben sich Schatten, bleiben zusammen gegen jeden Sturm und ist die Zeit reif, bringen sie Frucht. Bei uns ist es mehr. Es ist, als spräche man von wahrer Liebe, als würde uns jemand einander aufpfropfen. Ein einziger Stamm, zwei edle Zweige gleicher Art daran. Bricht der junge Ast, so bricht der ganze Baum. Erst mit den Jahren wird er stark, bis er unweigerlich fallen muss, bekleidet mit einem roten Band."

„Die beste Zeit ist jetzt im Frühling und bis zum Herbst ist es noch lang. Ich habe es gleich geahnt. Ein besonderer Gärtner bist du. Du hegst und pflegst die Worte, die dir wie Blumen sind, jede nach ihrer Art, nach Klang, Duft und Farbe. Du suchst die Urpflanze, nicht wahr?"

„Ich denke, ich habe sie in dir gefunden."

Sie gab mir einen Kuss auf die Wange.

„Ich weiß es, ich liebe dich. Zusammen finden wir sie. Wenn man diesen Ort verlässt, geht man reicher zurück, als man gekommen ist. Man findet das kleine Licht am Ende des Gartens und weiß, dass es auf etwas verweist, das viel größer leuchtet als es erscheint. Und dieses feine Leuchten in uns, dieses kleine Funkeln am Himmel, ist unendlich groß, dass man es nicht fassen kann. Tief in uns, mit dem Blick nach oben. Wie der Mond, ein blasses Gesicht, beleuchtet von der Sonne, die man Nachts nur erahnen kann."

*

Ich hielt inne und schaute sie an.

Sie lag still mit geschlossenen Augen und atmete ruhig, tastete nach meiner Hand auf ihrem Bauch und umschloss sie sanft.

„Ließ bitte weiter", flüsterte sie.

*

Ihre umher irrenden Augen. Dieses Himmelblau, in einem dunklen Labyrinth verloren.

Ich sah sie an und fühlte durch ihr Gesicht. Folgte mit den Augen meinen Fingerspitzen, die über ihre anmutigen Konturen lasen.

„Du bist schön."

„Bin ich das?"

„Ja."

„Das bist du auch."

Wir lagen nebeneinander, sie auf den Ellenbogen mit dem Blick hinein in ihre Welt und den Kopf auf grazile Hände gestützt. Ein wissendes, zartes Fühlen darin.

„Es gibt eine Schönheit, die man nicht sehen kann", flüsterte sie, „glaube mir, es ist wahr. Ich bin der Beweis. Mach die Augen zu und konzentriere dich."

Ich schloss meine Augen, während ihre Hand mich aufmerksam zu betrachten begann.

„Bist du ein Schaf oder ein Wolf?"

Ich lachte laut.

„Ich meine es ernst."

„Entschuldigung."

„Du musst dich nicht entschuldigen, mein Schaf, du kannst nichts dafür."

Ihre Hand lag liebevoll auf meiner nackten Brust.

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