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Walpurgisnacht 02

Geschichte Info
Der Spielmann beherrscht sein Instrument.
4.6k Wörter
4.04
34.1k
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Geschichte hat keine Tags

Teil 2 der 3 teiligen Serie

Aktualisiert 03/16/2022
Erstellt 01/05/2009
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Der Hagel ließ nicht einfach nach, er stoppte so plötzlich, wie er eingesetzt hatte. Eben noch rauschten die erbsengroßen Körner einem Gazevorhang gleich von oben herab und das Prasseln auf den Blättern der Kastanien schwoll an zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen, jetzt herrschte plötzlich Stille. Hier und da tropfte es von den Ästen, knarrte ein Baum, knackten Zweige. Selbst die Vögel schienen betäubt vom Lärm zu überlegen, ob es sich wieder lohnte, den Schnabel aufzumachen. Spielmann Tim streckte den Kopf unter einer Fichte hervor. Die Dunkelheit im Wald wurde zu einem hellen Grau, einem Lichtweiß, und schließlich fielen die ersten Sonnenstrahlen auf den Boden. Vorsichtig machte Tim erste Schritte zwischen kleinen Hagelhaufen, lief um Pfützen herum und hüpfte schließlich vor Vergnügen.

Das Leben hatte vor drei Tagen wieder einen Sinn bekommen. Seitdem er beschlossen hatte, Spielmann zu werden und mit der Musik seinen Lebensunterhalt zu verdienen, war es mit ihm bergab gegangen. Sein Vater setzte ihn vor die Tür und übergab die Schmiede an Tims jüngeren Bruder, seine Mutter sprach nicht mehr mit ihm, und seine Großmutter hatte ihm lediglich den spöttischen Rat mit auf den Weg gegeben, sich vor den Wölfen in Acht zu nehmen.

Wölfe. Das Bild im Kopf war fertig, brauchte keine weiteren Details. Spitze Zähne, gelbe Augen, drohendes Knurren und unbändiger Hunger. Immer drehte es sich darum, wie viele Geißlein der Wolf gefressen, welche Mädchen im Wald er verschlungen und warum er den Spielmann zerrissen hatte.

Niemand jedoch hatte sich ein Bild davon gemacht, was es für Tim bedeutete, Musik zu machen. Was Martin Luther für Reformierte, war Josquin Desprez, der Fürst der Musik, für Tim geworden. Seine Motetten, Messen und Chansons waren der Blitzschlag auf freiem Felde gewesen, die Erleuchtung des Unwissenden, die Aufklärung des Unmündigen.

Dessen ungeachtet hatte sich Tim das Leben des Musikers einfacher vorgestellt. Zwei gravierende Probleme stellten sich heraus. Zum einen nannte er bis vor kurzem lediglich eine Triangel sein Eigen und zum zweiten konnte er nicht einmal sie spielen. Wenn er sich auf den Marktplatz stellte und versuchte, mit seiner Triangel eine Melodie zu spielen, straften ihn die Passanten mit Missachtung oder, schlimmer noch bewarfen sie ihn mit faulem Obst und trieben ihn aus dem Ort.

Dann aber traf er mit knurrendem Magen zwischen Osterleben und Haldeberg ein altes Mütterchen im Wald, trug ihr in der Hoffnung, sie würde ihm etwas zu Essen dafür geben, einen Klafter Holz in die Hütte. Doch statt ihm Wurst und Käse zu geben, verschwand die Alte mit knackenden Gelenken durch eine schmale Tür. Gerade wollte er enttäuscht wieder gehen, das trat eine wunderhübsche junge Frau in die Hütte. Sie war splitterfasernackt, mit riesigen, wippenden Brüste, einem breiten Becken und üppigen Schenkel, zwischen denen kein Haar den Blick auf die Möse verbarg. Ohne Umschweife kniete sie sich vor ihn, öffnete seine Hose und holte seinen Schwanz heraus. Sie ließ wortlos sein kleines Männchen in ihrem Mund verschwinden und weckte Gefühle, die vor lauter Musik bereits vergessen schienen. Während Tim von oben und mit zitternden Knien betrachtete, wie sich der Kopf der blonden, wunderhübschen Frau auf seinem blitzschnell erwachsen gewordenen Mann vor und zurück bewegte, beschloss er, in Zukunft netter zu alten Frauen zu sein. Wer wusste schon, ob nicht alle eine schöne Tochter hatten, die ihn für seine Hilfsbereitschaft belohnen wollten? Kaum hatte er die Ersparnisse der letzten Wochen bis auf den letzten Tropfen aus dem mit Fingern und Zunge verhätschelten runzligen Beutel zwischen seinen Beinen geholt und war ermattet auf einen wackligen Hocker gesunken, verschwand die nackte, blonde Frau wortlos mit schwingenden Hüften durch die Tür. In beiden Mundwinkel glitzerten milchigweiße Tropfen. Glücklich aber mit knurrendem Magen verließ er die Hütte. Die trockenen Reste aus seinem Brotbeutel und ein paar Beeren waren das klägliche Mahl des Tages, ein Bett aus Moos unter einer Tanne sein Nachtlager.

Der nächste Tag begann so traurig wie der vorherige. Hungrig stellte er sich in der nächsten Ortschaft auf den Marktplatz und spielte wieder vergebens auf seiner Triangel, bis ihm der Magen in den Kniekehlen hing und er kurz vor dem Entschluss stand, Mundraub zu begehen und enttäuscht nach Rostock zurückzukehren. In diesem Moment humpelte ihm eine runzlige alte Frau mit einem schweren Sack auf der Schulter über den Weg. Buckel, Warzen, strähnigen grauen Haaren und eingefallenen Lippen. Anfangs begegnete sie seinem Wunsch, ihr den Sack abzunehmen, mit ungerechtfertigtem Misstrauen, aber schließlich überzeugte Tim sie mit leichter Gewalt und trug ihr den Sack nach Hause. Seine Frage nach der Tochter, Enkelin oder Nichte hingegen schien sie nicht zu verstehen, und die Bitte um Belohnung erfüllte sie schließlich mit einem trockenen Kanten Brot und einer Ecke Käse.

Gerade jedoch hatte Tim die Hütte verlassen und sich auf die Suche nach einem Quartier für die Nacht gemacht, liefen ihm zwei junge Mädchen mit einem Korb in der Hand über den Weg. Auf die Frage, wohin des Wegs sie seien, antworteten sie im Chor: „Zur Großmutter.“

Tims Augen weiteten sich. „Braucht eure Großmutter zufällig Hilfe in der Küche?“

Krachend traf die Klinge den Holzklotz. Tim schwitzte. Er hatte Angst, sich in der Dunkelheit selbst in den Fuß zu hacken. Zwei Klafter später waren die beiden jungen Mädchen längst wieder im Wald verschwunden, und Tim traute sich kaum, nach einer Belohnung zu fragen. Er wollte nur noch schlafen. Vielleicht hatte die alte Frau ja eine Scheune.

„Ich habe nicht viel“, knarrte die Frau später am Tisch. Tim schlief beinahe im Sitzen ein. Aus dem Mundwinkel hingen ihm der letzte Zipfel Wurst. „Was könnte ich Euch geben?“

„Ein Bett“, murmelte Tim, während das Hemd an seinem Körper trocknete. So viel Holz hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gehackt. Für nichts und wieder nichts. Nein, nicht ganz richtig: für eine Mahlzeit.

Am nächsten Morgen erwachte Tim zusammengerollt vor dem Ofen, erhielt eine fette Hafergrütze und einen Krug Bier zum Frühstück, und gerade als er sich verabschieden wollte, um bei der nächsten alten Frau sein Glück zu versuchen, bevor er seine Kurze Karriere als Spielmann an den Nagel hängte, drückte ihm die Alte eine Gitarre in die Hand. Eine echte spanische Gitarre mit fünf Saiten.

„Hier. Mein Mann hat sie spielen können. Ich leider nicht. Vielleicht könnt Ihr sie eintauschen gegen etwas zu Essen oder was Euch sonst noch weiter hilft.“

Und so nahm sein Leben eine ganz neue Wendung. Rasch entdeckte er die Möglichkeiten der Gitarre, die ihm die Triangel nicht geboten hatte -- nicht nur für das Spielen sondern auch fürs Singen. Ihm gingen mit der Gitarre in der Hand auf einmal Worte, Melodien und Rhythmen wie von selbst über Zunge und Finger. Josquin, dachte Tim, zieh dich warm an. Jetzt kommt Tim, der Spielmann. Leider war das Wetter sehr wechselhaft. Immer, wenn sich die Sonne gerade wieder zeigte und Tim auf den Marktplatz trat, dauerte es keine Minute, biss er Spiel und Gesang unterbrechen musste, weil ein Platzregen hereinbrach. Der April, dachte Tim, macht wirklich was er will. Zum Glück gab ihm eine Marketenderin in ihrem Planwagen Unterschlupf und nahm ihn ein Stück mit. Sie sei auf dem Weg nach Kurland, wo sich ein Krieg zwischen Schweden und Polen abzeichne und ein gutes Geschäft verspreche. Tim schrubbte über die Seiten und sang, und die dralle Marketenderin trieb mit schnalzender Zunge die beiden Pferde an. Kurz hinter Wernigerode hielt sie die Pferde an.

„Wenn du deine Zunge so gerne gebrauchst, solltest du es vielleicht zwischen meinen Schenkeln tun“, sagte sie und lüpfte den Rock. Zwischen Pfannen und Töpfen, Säcken voll Mehl, Grieß und Rüben, zwischen Kräutern und Krügen spreizte sie erst die Beine und ließ Tim mit drei, vier und fünf Fingern ihre Möse untersuchen, nachdem er sie nicht weniger als zweimal mit der Zunge zum Höhepunkt gebracht hatte.

„Landsknechte“, keuchte sie, als ihr Tim seine Hand bis weit über das Handgelenk hinein schob, „haben immer so große Musketen. Das schafft Platz in meiner Möse.“

Tim, sein Magen knurrte lauter als die Pferde wieherten, griff sich mit der freien Hand einen Apfel aus einem Korb und schob der lustvoll Zeter und Mordio rufenden Marketenderin seinen Arm bis zum Ellenbogen in die heißen Tiefen ihrer erfahrenen Möse. Zuckend kam sie ein drittes und viertes Mal, und der Spielmann schwor sich, darüber ein Lied zu verfassen, das noch Generationen später Zuhörern die Augen feucht werden lassen sollte.

Als sie sich anschließend hinkniete und Tim seine Flöte in ihren mit einem großzügigen Stück Butter gefetteten Hintereingang schob, stopfte er sich ein herzhaften Stück Brot hinterher und dazu noch ein Stück kalten Schweinebraten. So hatte er sich das Leben als Spielmann vorgestellt. Sex, Dauerwurst und Motetten.

„Dieses Instrument beherrschst du wirklich meisterhaft“, grölte die Marketenderin bei jedem Stoß, den Tim zwischen ihren drallen Backen ausführte. Dabei schob sie sich einen strammen Rettich tief in die Möse. So viel Unersättlichkeit hatte Tim noch nie erlebt. Lustvoll biss er in eine Karotte und spritzte ihr in den Arsch. Bei einer ausgedehnten Mahlzeit erzählte ihm die Marketenderin vom letzten Grafen der Blankenburger, der wieder auf Regenstein thronte, seit Gräfin Margarethe zusammen mit ihren Kindern an der Pest gestorben war. Sie berichtete Tim, der Graf sei schwermütig geworden, weil das Geschlecht auszusterben drohte. Seit Jahren habe er nicht mehr gelacht, Unterhaltung sei ihm ein Fremdwort geworden, er hocke trübsinnig in seiner Felsenburg und warte angeblich auf den Tod. Das wisse sie, weil sie dem Grafen vergeblich ihre Dienste angeboten habe.

Die Gelegenheit, sich ein paar Taler zu verdienen, dachte Tim. Am nächsten Morgen trennten sie sich. Die Marketenderin hatte ihren Wagen zurück auf die Straße gen Nordosten gelenkt, und Tim hatte sich auf den Weg nach Südwesten, in Richtung Blankenburg gemacht.

Die Erinnerung an die letzten drei Tage tat gut. Tim hüpfte wieder vor Vergnügen und stapfte mit seinen Stulpenschuhen von Pfütze zu Pfütze, bis die Feder an seinem Hut wippte. Eine solche Gitarre war von Anfang an sein Wunsch gewesen.

Tim nahm das Instrument vom Rücken und zupfte die Saiten. „Und nun ein Frühlingslied“, sagte er zu sich selbst. „Über den Hagel.“

Also griff er in die Saiten und spielte, bewegte selbstvergessen seine Finger.

„Hagel fähällt rauschend niedääär, auf der Wähält gibt's nicht nur Liedäär..“

Plötzlich entstanden dunkle Wolken, schoben sich vor die Sonne, die Luft roch auf einmal nach Regen. Kurz vor den ersten Tropfen brach von der Seite her aus dem dunklen, grünen Wald ein Wolf.

Keuchendes Knurren und asthmatisches Rasseln begleiteten das Tier, das langsam auf den Weg trottete. Müde Augen waren in Wahrheit ein taxierender Blick, der Blick vor dem Sprung, der Sprung vor dem Knurren, das Knurren vor dem Aufreißen des Maules voller spitzer Zähne.

Tim stellte das Singen ein, blieb stehen und hielt die Luft an in einem kurzen Moment des Schocks. Wie ist das, wenn man stirbt, dachte Tim. Spürt man die Krallen im Rücken, den heißen Atem der Bestie im Nacken, bevor sich die Zähne in den Hals bohren? Oder verliert man das Bewusstsein, ist der Körper so gnädig und erspart einem die Qual?

Mit einem leisen Ping-Kling sank die Gitarre herab, Tims Hand zitterte. Der Wolf schlich näher, knurrte und ließ die lange Zunge aus dem Maul fahren. Die Worte trafen Tim wie ein Schlag mit der Schalmei.

„He du, Spielmann, wart mal.“

Aus dem Nichts kamen diese Worte. Nun, korrigierte sich der Spielmann, aus der Richtung des Wolfes. Doch Wölfe konnten nicht sprechen. Normalerweise.

„Wer, ich?“, fragte Tim zurück und sah genauer hin. Seine Stimme vibrierte unmerklich. Kein Mensch weit und breit, im Unterholz kein Versteck, das dicht genug war, um von dort einem dressierten Wolf Worte in den Mund zu legen, wie es Tim in Schwerin bei Zigeunern mit Tanzbären gesehen hatte.

„Ja, du“, erwiderte der Wolf. Obwohl das Tier keine Lippen hatte und sich die beiden Kiefer nur wenig auseinander bewegten, hörte Tim ganz klar die Worte aus der Schnauze kommen. In den Geschichten seiner Großmutter hatte er von sprechenden Wölfen gehört, das hingegen nie für möglich gehalten. Schließlich gab es auch keine sprechenden Kühe, Gänse oder Hasen. Aber Großmutter hatte immer die Wahrheit gesprochen, es gab sie, sprechende Wölfe, hier im Wald, im Harz. Und sie hatten eine tiefe Stimme.

Das Tier umschlich den Spielmann und setzte sich auf den kühlen Waldboden.

„Dich schickt der Himmel.“ Der Wolf hob ein Bein über den Kopf und putzte sich. Tim sah sich um. Kein weiterer Wolf zu sehen. Trotzdem war Misstrauen angesagt. Schlief Tim nicht, stand vor ihm noch immer ein Wolf, ein heimtückisches Biest, das Menschen fraß, Schafe riss und Füchse terrorisierte.

„Au“, sagte Tim, der sich unauffällig in den Arm kniff, um einen Traum auszuschließen. „Mich?“

„Du spielst so, so herzzerreißend, du musst mir das beibringen.“

„Was?“

„Das schlechte Spielen.“

Tims Stimme nahm über die Angst hinweg eine Spur Empörung an. „Schlechtes Spielen? Hör mal“, erwiderte er. Wahrlich, er war auf alles vorbereitet gewesen, auf eine kurze Flucht, einen aussichtslosen Kampf und den Tod, jedoch nicht auf eine Diskussion über die hohe Kunst des Musizierens mit einem Tier, das nicht einmal Hände hatte. „In Halberstadt haben mir die Leute sogar Geld gegeben. Die Gitarre ist nämlich neu, musst du wissen, ich habe sie gerade erst bekommen.“

Der Wolf stand auf und hechelte vertraulich.

„Komm, bring's mir bei.“

„Im Ernst? Du willst von mir das Spielen lernen?“

Tim war verblüfft, die Angst weg. Ein Wolf, der nicht bloß sprach, sondern zugleich noch lernen wollte, wie man Gitarre spielte. Besser als ein Wolf, der noch nicht gefrühstückt hatte.

„Ehrlich, ein so schlechter Musikant wie du ist mir noch nie begegnet“, sagte der Wolf. „Du bist meine Rettung.“

„Die Rettung? Aus welcher Lage?“ Seine Stimme verriet wachsende Empörung. Wenn der Wolf nicht langsam aufhörte, über die Qualität seines Spiels zu lästern, würde er ausprobieren, ob die Klampfe gleichermaßen als Schlaginstrument zu benutzen war.

„Ich bin ein verzauberter Königssohn und lebte immer auf einer Burg oder einem Schloss, ganz sicher weiß ich's nimmer. Denn eines Tages wachte ich auf und war ein Wolf, und neben mir stand eine alte Frau, die sagte, auf mir läge ein Fluch, und erst wenn mir ein der untalentierteste Spielmann der Welt das Gitarrespielen beibrächte, würde ich wieder zu einem Menschen werden und mich erinnern, wo ich hingehöre.“ Der Wolf stand auf und umkreiste den Spielmann wieder. Dessen Augen folgten ihm misstrauisch. „Komm. Bring mir das Spielen bei, genau so schlecht.“

Einen Augenblick überlegte Tim und sah in die Schatten hinter den Bäumen. Was würde der Wolf machen, wenn er sich weigerte?

„Ich spiel' nicht nur, ich singe auch“, sagte Tim, um Zeit zu gewinnen.

„Ich hab nen ziemlich leeren Bauch, und fängst du nicht bald an zu singen...“

„Drohst du jetzt, mich umzubringen?“

„Lass es mich mal so sagen: Du kannst als Lehrer verschwinden oder in meinem Magen.“

Der Wolf starrte plötzlich nachdenklich nach links, Tim nach rechts. Etwas hatte sie überrascht, ganz unabhängig voneinander, wie ein Hagelschauer im April.

„Wie sollte ich dich das Spielen lehren, ich hab es selber erst gelernt.“

„Dann rate ich dir sehr, endlich anzufangen, weil in diesem Wald anscheinend jeder Dinge lernt, die ihm nicht unbedingt in die Wiege gelegt wurden.“

„Sprichst du da ganz entfernt etwa von dir?“

„Ich spreche, richtig, wie kein anderes Tier.“

Wieder sah der Wolf zur Seite und Tims Blick verlor sich in der Unendlichkeit. War es wirklich das, wonach es sich anhörte? Und während er nachdenklich in die dunklen Tannen starrte, kam ihm eine Idee. „Gut, Herr...Wolf, ich werd's versuchen. Aber eine Regel gilt.“

„Keine Frage.“ Der Wolf hüpfte hechelnd im Kreis herum. „Sage mir ganz einfach, was ich tun soll.“

Ein breites Lächeln zeigte sich auf Tims Gesicht. Schlecht spielen. Er packte seine Gitarre, zupfte ein paar Saiten und ging zum Wegesrand. Auf dem Fuß folgte ihm der Wolf. Tim ging den Wegesrand entlang und sah auf die Bäume, seine Augen folgten dem Stamm bis zur Krone, dann ging Tim weiter. Den Baum, der seinen Ansprüchen gerecht wurde, packte er an einem tiefhängenden Ast, zog an ihm, ergriff den nächst höheren Ast und zog an ihm die Tanne bis zur Krone hinunter.

„Kraft und Biegsamkeit ist voll gefragt, auch beim Spielen der Gitarre. Also fass mit an...“, knirschte der Spielmann zwischen zusammengebissenen Zähnen. Der Wolf trat heran, Tim drückte ihm das heruntergebogene Ende der Tanne in die Pfoten, sagte „und halt gut fest“ und ließ, gerade als der Wolf seine Tatzen in den Ast krallte, die Tanne los. „Allerbest.“

„Ooooaaaahhhaaauuuuuu!“

Der Wolf fetzte durch die dichten Kronen der Bäume und wurde von der sich ruckartig aufrichtenden Tanne weit in die Luft geschleudert. Irgendwo, weit hinten im tiefsten Wald, fand der Wolf den Erdboden wieder.

„Verzauberter Königssohn, jaja.“ Tim nahm seine Gitarre wieder vom Rücken, zupfte an der untersten Saite, spannte sie eine Idee straffer, zupfte erneut, wich einer Luftwurzel aus, strich über alle fünf Saiten und spielte wieder eine Melodie, die er vor Jahren einmal auf einem Volksfest gehört hatte.

„Oooh!“, begann Tim aus vollem Halse zu singen. „Ach wie guuut, dass niemand waißßßß, dass ich auf die Wöööölfe scheiß'!“

Irgendwo in der Nähe von Quedlinburg schlug der Blitz ein. Singend wanderte Tim durch den grünen Wald. Das Gelände wurde welliger, und weit vor ihm erhoben sich die ersten Ausläufer des Harzes. Der Weg machte immer wieder einen Bogen um ein besonders dichtes Waldstück oder schlängelte sich an einem Bach entlang. Rechts von ihm lag jetzt der Harz, vor ihm ein Hügel, der Berg dahinter musste die Kleine Roßtrappe sein, von der man ihm erzählt hatte. Dazwischen thronte die Burg Regenstein auf ihrem Sandsteinfelsen.

Bei Anbruch der Dämmerung wurde das gewundene Band des Weges zu einer geraden Straße, die direkt nach Blankenburg führte.

Tim hüpfte über eine Pfütze und einen Stein. An der Abzweige nach Blankenburg bog er ohne zu zögern in den gegenüberliegenden Weg ein. Dort musste es zur Burg Regenstein gehen. Und tatsächlich: Durch die Bäume schimmerte nach ein paar hundert Schritten zuerst der hohe Bergfried, dann ragte der zu zwei Dritteln in den Sandstein geschlagene Palas über die Wipfel, und schließlich tauchte das hohe Burgtor auf. Eine heruntergelassene Zugbrücke führte über den Graben, die schweren Torflügel im Inneren des Torgebäudes standen weit offen.

Im Innenhof warf ein alter Mann mit schlecht gestopften Strümpfen unter dem ausgeblichenen Beinkleid gerade einen kleinen Stock quer über den Burghof. Auf dem Wams waren deutliche Flecken der letzten Mahlzeiten zu sehen. Der Alte rief einem faul auf den Stufen zum Turm liegenden Wolfshund etwas zu. Der hob den Kopf, ließ die Zunge aus der Schnauze fahren und leckte sich die Lefzen, ein zweiter Hund bellte aufgeregt den Spielmann an.

„He da, guter Mann.“ Tim blieb im Burgtor stehen. Er wunderte sich über den Regen im Burghof. Tim drehte sich um und sah zurück zur Zugbrücke. Diese war trocken, dort schien die Sonne durch die Bäume. Tim streckte die Hand aus. Leichter Nieselregen im Burghof. Er zuckte mit den Schultern.

„Graf Botho von Blankenburg, wenn ich bitten darf.“

„Mit Verlaub, freilich es hieße, dass Johann Ernst von Blankenburg hier Wohnrecht genieße?“

„Johann Ernst ist tot“, fauchte Botho. Tim stutzte. Aus der Pluderhose des Mannes ragte eine mächtige Erektion. „Ich bin der Herr der Burg.“

Ein Lächeln zauberte sich auf Tims Gesicht. Ob Botho oder Ernst war ihm einerlei. Nur der steife Schwanz kam ihm seltsam vor. Tim beschloss, ihn zu ignorieren.

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