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Geschichten, die das Leben Schreibt 01

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Barock beispielsweise, bedeutet immer Handzeichnung. Und hier war ein Mensch, der nicht nur perspektivisch und proportionsgerecht zu zeichnen verstand. Nein, die Zeichnungen hatten ein Eigenleben und das ist für Ausschreibungen oder Bauherren immer ein wichtiges Pfund. Wir vom Fach wissen sehr genau, wie es später aussehen muss und wird. Ein Bauherr braucht aber immer ein „greifbares" Bild.

Ich blätterte eine Seite weiter. Ein sehr beeindruckendes dreifarbiges Bild. Die linke Kopfhälfte zeigte den Jungen von eben auch wieder als Rötelzeichnung, der Mund zu einem Lachen geöffnet, Zunge, Zähne Mundhöhle auf das Detaillierteste gezeichnet. Die rechte Kopfhälfte war mit einem dunklen Gelbstift gezeichnet; der Kopf ging von Rot zu Gelb über, die Formen wurden weicher und das Jungengesicht lief in ein sehr hübsches Gesicht einer langhaarigen, sympathisch wirkenden Blondine über.

Am Halsansatz flossen die roten und dunkelgelben Farbtöne in eine schwarze Kohlenzeichnung hinein. Der Januskopf thronte auf einem zweiten Kopf; in der oberen Hälfte ein Totenschädel mit schwarzen leeren Augenhöhlen und einem langgezogenen Loch, wo die normal die Nase befand. Es war ein kleiner runder Schädel, der nach unten hin an Substanz gewann und in den Resten eines Gesichtes auslief. Eindeutig dem Gesicht des Jungen, den ich heute mitgenommen hatte. Obwohl nur Mundpartie, untere Wangenregion und Kinn erkennbar waren, drückte das Gesicht eine sehr tiefe Trauer und Zerrissenheit aus.

„Wenn jedes Lächeln weh tut,

Wenn Du Dich selbst nicht mehr erträgst,

Wenn Du denkst nicht mehr mit Dir und mit der Welt klar zu kommen,

Wenn Du nicht mehr mit der Vergangenheit und der Gegenwart klar kommst,

Wenn Du Angst hast mit der Zukunft klar zu kommen,

Wenn Du nicht mehr bereit bist, Dich selbst zu fühlen,

Dann kann Dir der Tod wie ein Traum erscheinen."

Harte Kost!!! Der Junge musste sich in den Rothaarigen verguckt haben. Doch der war wahrscheinlich als Hetero nicht an mehr als Freundschaft oder Bekanntschaft interessiert und hatte sich seinerseits alsbald mit der Blondine zusammengetan.

Eine heimliche, eine enttäuschte und eine vergebliche Liebe! Eine Liebe, die in Seelenpein mündet. Ich konnte ihn gut verstehen.

Das Skizzenbuch war wie ein Spiegel in die Seele dieses Jungen. Ich kam mir wie ein Voyeur vor. Nein, ich war dieser Voyeur -- ganz real. Nur dass ich ihn nicht heimlich durch das Fenster beim Ausziehen seiner Kleidung betrachtete. Das hier war mehr. Ich betrachtete sein Innerstes.

Durfte ich das? Nein! Und doch konnte und wollte ich nicht damit aufhören.

Das nächste Bild war wieder eine Bleistiftzeichnung. Es war ein Pantherkopf in der Seitenansicht hinter Gitterstäben. Über diesem Raubtierkopf waren fein die Gesichtszüge des Jungen gelegt -- Stupsnase, schmale Lippen -- hört sich vielleicht abstrakt an, sah aber ziemlich Klasse aus. Weniger Klasse in diesem Zusammenhang der Text, der eindeutig von Reiner Maria Rilke stammte :

„Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

so müd geworden, dass er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,

in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,

geht durch der Glieder angespannte Stille -

und hört im Herzen auf zu sein."

Tolles Gedicht. Ein Klassiker. Und jeder erkennt sich irgendwo in diesen Zeilen wieder. Aber was den Jungen anbelangt, lief da irgendwas hier ziemlich falsch.

Das nächste Bild waren eigentlich 4 Bilder, die in einem Halbkreis angeordnet, den nachfolgenden Text krönten. Eine Raupe, Segment für Segment mit Haaren bedeckt; eine verpuppte Raupe an einem Blatt hängend; das Aufbrechen der Raupe und das Ausschlüpfen eines Schmetterlings; ein Schmetterling mit ausgebreiteten Flügeln ...

„Wenn Du nicht mehr bereit bist, Dich selbst zu fühlen,

Dann kann Dir der Tod wie ein Traum erscheinen.

Und wenn Du ihm dann wirklich nahe bist,

dann sehnst Du ihn nicht mehr herbei,

denn da ist das Sterben, was von der Veränderung kündet

Und was erst schön und erstrebenswert erschien,

offenbart sein ihm inne wohnendes Grauen.

Die Maske der Schönheit fällt

und was nach Vollendung aussah,

ist nicht länger vollkommen -- der Tod ist schon da

Und wenn Du da noch einen Hauch von Angst hast,

Dann fühlst Du doch noch etwas, dann spürst Du Dich

Und der Traum der Erlösung mutiert zu einem Alptraum.

Einem Alptraum ohne Ausweg, ohne Erlösung

Und ohne Veränderung."

Ziemlich verworrene und quere Gedanken, deren tieferen Sinn ich erst meinte, langsam zu verstehen, als ich das Bild auf der nächsten Seite sah.

Eine grobe Skizze eines Unterarms mit einer nach oben gewandten Handinnenfläche. Der Bereich unterhalb des Handgelenks war im Gegensatz zu der Skizze extrem sorgfältig ausgearbeitet. Drei quer verlaufende Schnittwunden. Ein paar Tropfen Blut die der Schwerkraft folgend nach unten rinnen und im Vordergrund ein Messer an dessen Spitze ein einzelner Tropfen Blutes prangte.

Wein, der anstrengende Tag und die mittlerweile fortgeschrittene Stunde beeinflussten etwas meine nun immer melancholischer werdenden Gedanken. Ich ließ mich auf das Buch und die Denkweise seines Autors ein.

Ein Junge der lieber ein Mädchen sein wollte? Der nicht mehr zurückgewiesen, sondern auch geliebt werden wollte?

Wie eine hässliche Raupe, die sich verpuppt, irgendwann ihre sie umgebende Haut sprengt und abstreift, wiedergeboren als hübscher Schmetterling; war diese Skizze mit dem Unteram ein ähnlicher Versuch. Der Versuch aus dem eigenen ungeliebten Körper auszubrechen, um in einer Metamorphose neu geboren zu werden?

Oder war der Schmerz der Schlüssel? Wie bei einem „Borderliner" -- das sich endlich wieder spüren können? Am Ende vielleicht Beides?!?!

Ich bin kein Psychologie und wollte das jetzt auch nicht professionell bewerten .In jedem Fall klangen die letzten Seiten ziemlich gefährlich nach Selbstzerstörung und einer vermeintlichen Ausweglosigkeit.

Die nächsten Seiten waren harmloserer Natur. Bilder von Blättern und Bäumen. Von Türen und von Fenstern.

Dann wieder ein großes männliches Glied. Eine Erektion. Jedes kleine Blutgefäß deutlich sichtbar. Jedes sich kräuselnde Haar miteingezeichnet; sogar ein paar Schmutzpartikel. Ein praller Hodensack. Nichts übertrieben dargestellt. Eine vorgewölbte Vorhaut, von der Eichelspitze durchbrochen. Darunter nur ein kurzer Satz :

„Mein Traum vom Glück"

Es folgten einige weitere, eher anatomisch geprägte Bilder von Ausschnitten von Männerkörpern. Auch das verknitterte Gesicht eines sehr alten Menschen, ein vernarbtes Knie und ein gewaltiger behaarter Bierbauch waren darunter. Aber keine Studien, die einen Frauenkörper zeigten.

Dann kam eine in Kohle gezeichnete Berglandschaft, die sich gleich beide Seiten des aufgeklappten Buches mit einbezog. Schattenspiele und ein Sonnenuntergang. Obwohl nur mit Kohle gezeichnet, war das Farbspiel der Sonne in den hochstehenden Wolken sorgfältig herausgearbeitet. Ein Bild, viel zu schade für ein Skizzenbuch. Rechts oben und doch irgendwie zentral in den Bildaufbau rückend ein Gipfelkreuz.

Und unten wieder ein Text -- Der Traum vom Tod von der Gruppe Subway to Sally :

„Ich hab heut Nacht vom Tod geträumt

er stand auf allen Wegen

er winkte und er rief nach mir so laut

Er sprach mein Leben sei verwirkt

ich sollt mich zu ihm legen

ein frühes Grab sei längst für mich gebaut

ein frühes Grab sei längst für mich gebaut

Ich floh soweit das Land mich trug

soweit die Vögel fliegen

doch mir zur Seite spürte ich den Tod

Sein Schatten folgte meiner Spur

ich sah ihn bei mir liegen

und seine Hände waren blutig rot

und seine Hände waren blutig rot

Da wusste ich es weht der Wind und Regen fällt hernieder

auch wenn schon längst kein Hahn mehr nach mir kräht

Weil ich schon längst vergessen bin

singt man mir keine Lieder

nur Unkraut grünt und blüht auf jedem Feld

nur Unkraut grünt und blüht auf jedem Feld

Ich hab heut Nacht vom Tod geträumt

es gibt kein ewig Leben

für Mensch und Tier und Halm und Strauch und Baum

das war mein Traum"

Ich kannte das Lied und hatte die Gruppe schon live in Aschaffenburg gesehen. Mittelaltermusik trifft auf Rock. Nicht alles mein Geschmack, aber einige Lieder hatten so etwas in ihrem Text. An dieses Stück konnte ich mich nicht erinnern, aber ich nahm mir vor, nach dem Frühstück mal auf „Youtube" vorbei zu schauen. Der Text war sehr schön und ... er passte in dieses Buch und entsprach seinem Tenor, was mir jetzt, in Hinblick auf den Gemütszustand des Jungen, wieder weniger gefiel.

Die letzte Seite mit Bild. Eine Backsteinmauer. Wieder eine Rötelzeichnung. Jeder Stein war anders gezeichnet. Keiner hatte eine glatte Oberfläche. Und über die Mauer langgezogene Schriftzeichen. Jedes Zeichen ein in sich geschlossenes Bild und zusammengenommen der zentrale Satz in Pink Floyds „The Wall" :

„Is there anybody out there?"

Darunter wieder ein Text.

„Niemand sieht mich. Niemand nimmt mich wahr. Ich bin allein. Niemand da zu reden. Niemand da der zuhört. Niemand da, der mich in den Arm nimmt und an den ich mich anlehnen könnte. Niemand und ich bin allein! Wie lange soll das noch so gehen? Wie lange kann das noch so gehen? Irgendwann ist Schluss. Jetzt ist Schluss!!!

Ich werde dem jetzt ein Ende machen. Ich werde die Mauer durchbrechen!!!"

Na Super. Das konnte jetzt Alles und gar Nichts bedeuten. Das Buch brach ab. Das war die letzte beschrieben, bebilderte Seite. Etwa 1/3 der Seiten war noch leer. Und nun? Wie sollte ich reagieren?

Ich schrieb spontan schnell ein paar Zeilen.

„Sorry Junge, aber ich habe Dein Buch geöffnet, die Bilder betrachtet und die Texte gelesen. Ich würde mich gerne mit Dir unterhalten. Zum einen über die Qualität Deiner Zeichnungen, deine Ausbildung und Deine Pläne, die berufliche Zukunft betreffend. Das was Du da machst hat mich wirklich tief beeindruckt.

Zum anderen habe ich ein paar Seiten vorsichtig mit „Postits" markiert. Über die Texte und die Bilder würde ich mich auch gerne mit Dir unterhalten. Das ist aber deutlich privater und möglicherweise für Dich auch unangenehm und schwierig.

Du kennst mich nicht und wir haben nichts miteinander zu tun. Das kann auch ein Vorteil sein. Ich kann zuhören und ich werde zuhören. Ich werde mir Zeit für Dich nehmen, wenn Du es willst.

Vielleicht hilft Dir das weiter. Und Vielleicht ergibt sich danach wieder eine Perspektive, die Du gerade nicht zu sehen vermagst.

Ich habe mich wegen dem Wetter spontan entschlossen, das ganze Wochenende im Lamm zu verbringen. (Ich gab meine Handynummer und meine Mailadresse an)

Ich fühle mich selbst auch gerade etwas ausgelaugt -- wahrscheinlich die einsetzende „Midlifecrisis". Deswegen wollte ich mir mal spontan was Gutes gönnen. Ich werde viel im Wellness- und Saunabereich unterwegs sein. Deswegen bin ich nicht immer online oder am Telefon erreichbar.

Du kannst mich im Lamm auch jederzeit über die Rezeption bekommen -- ist ja nur knappe 3 Autominuten von Dir entfernt. Bis bald? Alles Gute, Markus Lorch"

Ich legte den Zettel auf die letzte beschriebene Seite und klappte das Buch so zu, dass der Zettel, wie ein kleiner Reiter, erkennbar etwas überstand.

Ich legte das Buch auf den Nachtisch, trank noch einen Schluck Wein, deckte mich zu und löschte das Licht.

Trotz des harten Stoffs war ich schnell eingeschlafen. Ein traumloser Schlaf (zumindest konnte ich mich an Nichts mehr erinnern) und ein toller Morgen mit sehr leckerem Frühstücksbuffet.

Danach fuhr ich kurz nach Mespelbrunn, kaufte im Supermarkt am Ortseingang ein paar Getränke und etwas Naschwerk. Einer Eingebung folgend nahm ich eine Tüte mehr mit, als ich benötigte und steckte das Buch hinein.

10:30 am Morgen -- eine humane Zeit. Ich fuhr wieder zum Haus des Jungen, freute mich dass es ein Einfamilienhaus war und damit Verwechselungsmöglichkeiten ausgeschlossen waren und klingelte.

Ein kräftiger, mittelgroßer, dunkelhaariger und eher ungepflegter Herr mit Halbglatze in den mittleren 40 (also meiner Altersklasse) öffnete -- Jogginghose, verflecktes weißes T-Shirt; eine halbvolle offene Bierflasche war augenscheinlich gerade erst auf dem Garderobentisch abgestellt worden. Er sah mich fragend an.

„Hallo, mein Name ist Lorch. Ich hatte gestern bei dem Unwetter ihren Sohn von der Bushaltestelle mitgenommen. Ist der denn zu sprechen?"

„Soso, mein Sohn, ich wünschte ich hätt´ einen. Alles Weiber hier. Aber ne! Ist einkaufen."

Böser Dialekt. Na super, auf dem platten Land geht man mit Fragen wie Homosexualität vielleicht etwas konservativ distanzierter um, aber wie sich gerade der eigene Vater, mir gegenüber -- einem Fremden -- über seinen Sohn äußert, ist schon ziemlich harter Stoff. Mich wundert langsam gar nichts mehr.

„Er hat gestern im Auto wohl das hier liegen lassen. Wenn Sie es ihm bitte geben würden?"

Er musterte mich leicht amüsiert.

„Danke, ist schon vermisst worden. Ich werd´s weitergeben."

Sprach er und schloss auch schon wieder die Tür.

Na Toll! Ich setze mich wieder in meinen Sharan, fuhr zurück in das Hotel und verbrachte den Rest des Vormittags mit Schwimmen und Sauna. Dann gab es ein tolles Mittagsmenü -- ich hatte völlig vergessen, wie wirklich genial man hier essen kann -- und im Anschluss wartete ein schöner Massagetermin auf mich. Danach Mittagsschläfchen, ein Stück hausgebackenen Kuchen, einen Spaziergang, Abendessen, Sauna und der Tag war rum. So dachte ich.

Aber so kam es nicht zumindest nicht ganz so.

Das Mittagessen war erwartungsgemäß sehr lecker; die Massage gerade beendet (ich war schön locker und entspannt), als eines der Hausmädchen zielstrebig auf mich zukam.

„Ah Herr Lorch, ich hatte Sie gerade schon suchen wollen. Am Empfang hat sich Besuch für Sie gemeldet."

„Vielen Dank! Könnten Sie einen Platz und ein Getränk anbieten. Ich muss mich geschwind noch umziehen. Dauert nur einen kurzen Moment."

„Ist bereits passiert Herr Lorch. Ihr Besuch wartet auf der Terrasse und ist schon automatisch von uns mit Kaffee und etwas Gebäck versorgt worden, um die Wartezeit zu überbrücken."

„Herzlichen Dank", ich lächelte das Mädchen an. Was macht ein gutes Hotel aus? Das hier. Service! Und alle Bediensteten waren hier in täglich wechselnden Dirndl und Tracht gewandet; sehr schön anzusehen (vor allem das Dekolleté). Die Kleine war eine wirkliche Augenweide.

„Ich gerade nichts bei mir. Schreiben Sie sich doch am Empfang einen „Tip" von 5 Euro auf meine Zimmernummer."

„Herzlichen Dank Herr Lorch. Das ist aber nicht unbedingt notwendig, gehört zum Service", sprach sie, drehte sich um und war auch schon wieder verschwunden.

Ein paar Minuten später war ich auch schon in Jeans und Poloshirt gewandet und trat auf die Gästeterrasse, die dem Samstag, der guten Witterung geschuldet und der wohlsortierten Kuchen- und Tortentheke, gut gefüllt war. Der Junge hatte einen eher etwas abseits gelegenen Tisch gewählt und blickte in Richtung des Waldrandes und der Wassermühle.

Das Wetter war gut; Sonne, ein paar Wolken und eine warme Briese kam auf.

„Hallo. Du bist gekommen. Aus meinem Bauch heraus muss ich sagen, dass ich nicht damit gerechnet hatte -- nicht so bald zumindest.

Ich darf mich kurz vorstellen : Markus Lorch. Aber Du kannst mich gerne Markus nennen. Ich hab Dich ja gestern und eben auch geduzt."

Ich war jetzt wieder gut gelaunt, hatte eine Mission (Markus rettet die Welt) und wollte ganz bewusst versuchen, mit offener Körpersprache, mit Wärme und etwas Humor in Stimme und Blick, das Eis zu brechen und Vertrauen sowie eine gute Gesprächsatmosphäre aufzubauen.

Ich trat an ihn heran und reichte ihm die Hand zur Begrüßung. Er stand auf, sah mich direkt an; ein guter fester Händedruck. Na wenigstens etwas für den Anfang.

Die Situation musste für andere Gäste recht witzig gewirkt haben. Ich war 1,85 und schon ein Berg Fleisch und vor mir stand ein schmaler knapper „Meterfünzig", bei dem jetzt in Hinblick auf die Höhe gesehen, nicht wirklich ein Unterschied erkennbar war, ob er weiterhin auf seinem Stuhl saß oder stand.

„Hallo, Markus. Meine Freunde nennen mich Andi, aber eigentlich nennt mich jeder so."

Wir setzten uns und ich musterte ihn kurz und beiläufig. Etwa 1.54 groß, weißblonde Pagenkopffrisur; Ein sehr feines und dichtes Haar. Er hatte ein eher rundes etwas pausbäckiges Gesicht mit Lachfalten um Augen und Mundwinkeln. Und ein paar Grübchen am Kinn. Die Augen waren grün, mit ein paar rehbraunen Einsprengseln. Das war mir gestern gar nicht aufgefallen. Eine ungewöhnliche Farbe.

Leichter Flaum um die Oberlippe verriet, dass er sich nicht rasierte, weil er es wahrscheinlich auch gar nicht musste.

Er trug ein dunkelblaues unifarbenes und eigentlich zu groß geratenes T- Shirt, eine schwarze, weit geschnittene Jeans und dunkle, gepflegte Turnschuhe -- so ganz anders, als sein Vater.

Ich schätzte ihn auf etwa 45 -- 50 Kilogramm. Ein echtes Leichtgewicht. Das Alter war wirklich sehr schwer einzuschätzen. Ich würde ihn wohl später direkt fragen müssen. Über Dinge wie Sprache, Wortwahl Auftreten und Bildung als indirekte Hilfsmittel, kam ich da eher nicht weiter. Das Skizzenbuch und unser gestriges Gespräch legten nahe, dass ich eine vielseitig interessierte, aber zugleich zutiefst verunsichert und verzweifelte Persönlichkeit vor mir hatte, die ihrem wahren Alter etwas voraus war.

Körperhaltung etwas unsicher. Ausstrahlung Bewegungsmuster und Betonung hatten eindeutig eine feminine Komponente.

„Musterung abgeschlossen?"

Ich brummte zustimmend.

„Ich muss mir doch erst mal in Ruhe ein Bild machen, denn ich denke, dass unser Gespräch ein wenig länger dauern wird und Aussehen und Auftreten auch eine Rolle haben werden." Ich lächelte ihn offen an.

Die Bedienung, die sich während der Begrüßungsphase dezent im Hintergrund gehalten hatte, trat heran und ich bestellte einen Kaffee, schwarz ohne Zucker.

„Zunächst einmal möchte ich mich bei Dir entschuldigen, dass ich Dein Skizzenbuch geöffnet und als ich gemerkt habe, worum es geht auch weitergelesen habe. Das macht man eigentlich nicht und um es Dir zurückzugeben, wäre es auch nicht notwendig gewesen."

Er nickte zustimmend.

„Aber ich gebe es direkt zu. Ich war beeindruckt von den Bildern, ihrer Professionalität und der Wirkung, die sie auf mich hatten.

Ich habe mir überlegt, wenn Du so gut zeichnest musst Du auch ziemlich kreativ sein. Mit der Ausbildung zum Fensterbauer hast Du eine fundierte Ausbildung im Umgang mit den unterschiedlichsten Werkstoffen. Ich hatte ja gestern schon erwähnt das sich unser Betrieb mit Restauration beschäftigt. Das fängt bei Fachwerkhäusern an und hört bei Kirchen mit Altar und Gestühl auf. Aus dem ersten Bauchgefühl heraus würde ich mich gerne mit Dir über das unterhalten, was Du kannst. Das was Dich interessiert und ich würde gerne ein paar Werkstücke von Dir sehen. Je nachdem, was Du in der Zukunft zu machen gedenkst.

Dann habe ich die Texte gelesen. Und ich habe den Eindruck gewonnen, dass Du Probleme hast und Hilfe gebrauchen könntest.

Auch darüber möchte ich mit Dir reden. Aber ich nehme an, das ist auch der Grund, warum Du hier bist."

Am Anfang redete eher ich, über die Objektzeichnungen als Solches (bei in meinem Betrieb war ich dafür zuständig), darüber was wir in unserem Betrieb machten (ich erwähnte nicht, dass ich der Chef war). Er taute etwas auf und redete mehr über sich. Er war definitiv interessiert und wollte mir morgen Einiges von dem zeigen, was er so künstlerisch und handwerklich gemacht hatte. Skulpturen und Objekte aus Holz, Speckstein und Ton.

Die Zeit verging. Irgendwann war es gegen 17:00 und wir hatten schon knapp 2 ½ Stunden gequatscht. Im Moment drehte sich das Gespräch um Kunst doch wir näherten uns unerbittlich, wenn auch langsam dem eigentlichen und schwierigen Themenkomplex.