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Nachtwache

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Tanjas Vater, ein mittelgroßer Herr um die sechzig mit korrektem Seitenscheitel, im Gegensatz zu meinem nicht sehr viel jüngeren Vater aber schon vollständig ergraut, runzelte leicht die Stirn, als er uns sah.

„Guten Tag", sagte er höflich und gab meinem Vater die Hand. „Ich wusste gar nicht, dass ihr euch einen Hund angeschafft habt."

„Oh, das ist meiner", sagte ich schnell, zwängte mich an den beiden vorbei und scheuchte Paulo zurück ins Wohnzimmer.

Die Stirn von Tanjas Vater schlug noch mehr Falten. „Ah ja. Und Sie sind...?"

„Anneke", sagte mein Vater und in seiner Stimme schwang ein unüberhörbares Knurren mit, das sich allerdings nicht gegen mich richtete. „Meine Tochter."

„Guten Tag", grüßte ich und reichte mit einem so herzlichen Lächeln wie möglich erst Tanjas Vater, dann ihrer Mutter die Hand. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen."

Wenigstens die alte Dame lächelte zurück, wenn auch verhalten. „Hannelore Winter", stellte sie sich vor und warf ihrem Mann einen bittenden Blick zu.

„Georg Winter", sagte dieser mürrisch und wandte sich dann an meinen Vater, „So, du hast schon eine Tochter?"

Ich sah, wie ein Unwetter in dessen Gesicht aufzog, aber zum Glück rief in diesem Moment Tanja aus der Küche: „Ja, stellt euch mal vor, ich bin gewissermaßen Stiefmutter! Lustig, nicht?"

Was daran lustig sein sollte, verstand zwar keiner von uns, aber immerhin hatte es meinem Vater etwas den Wind aus den Segeln genommen und als Hannelore dem Baby auf seinem Arm endlich die gebührende Bewunderung entgegen brachte, schien er sich wieder vollständig zu beruhigen.

Ich nutzte die Gelegenheit und verschwand in der Küche um Tanja meine Hilfe anzubieten.

„Oh ja, das ist lieb von dir", freute sie sich. „Bin gleich fertig, wenn du schon mal den Tisch decken magst?"

Mittlerweile war fünf Uhr vorbei und draußen war es dunkel. Ich deckte den kleinen Tisch in der Essecke für fünf Personen und genoss den kurzen Moment der Ruhe, wohlwissend, dass dieser Abend nicht spannungsfrei ablaufen würde. Dafür war die Abneigung zwischen Georg Winter und meinem Vater zu groß und mich schien er auch nicht zu mögen. Wer darunter würde zu leiden haben, waren Tanja und ihre Mutter, was mir jetzt schon Leid tat.

„Du Tanja", sagte ich zögernd, als ich die Kartoffeln auf den Tisch stellte, „ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll. Ich war vorhin irgendwie völlig daneben und hab gar nicht nach dem Kind gefragt und wie es dir geht..."

Zu meiner Erleichterung fing sie an zu lachen. „Ach Anneke, ich bin froh, dass du das nicht getan hast. Alle Welt hat mir in letzter Zeit ständig dieselben Fragen gestellt, als wenn das ein Pflichtprogramm wäre, was man abspulen muss. Furchtbar! Nein, ich fand es herrlich, mich mal wieder normal mit jemandem zu unterhalten. Danke dir!"

„Echt?", fragte ich noch etwas unsicher. „Ich hatte schon Angst, dass du verletzt bist..."

Sie ließ den Putenbraten auf der Arbeitsplatte stehen und nahm mich in die Arme.

„Unsinn. Du machst dir viel zu viele Gedanken, genau wie dein Vater."

Ich erwiderte scheu ihre Umarmung. „Ich wünsch euch alles Gute. Ihr habt ein tolles Kind. Auch wenn Lina noch so klein ist, aber sie ist jetzt schon wunderbar."

Sie lachte und drückte mich noch einmal, dann ließ sie mich los. „Danke, Anneke. Das ist lieb. So", sie sah sich prüfend um und strich sich die Haare aus der Stirn, „jetzt noch den Braten auf den Tisch und dann können wir, oder nicht? Magst du die andern reinholen?"

Mein Vater und seine Schwiegereltern hatten sich ins Wohnzimmer gesetzt. Bevor ich hinein ging, blieb ich erst mal vor der angelehnten Tür stehen und lauschte. Offenbar war Hannelore die Einzige, die den Versuch eines Gespräches machte, indem sie stockend etwas über die Entwicklung von Kindern erzählte. Hin und wieder brummte mein Vater etwas wie „Hm.". Von Georg war überhaupt nichts zu hören. Na großartig.

Ich klopfte leise an die Tür bevor ich in den Raum trat. „Das Essen ist fertig", verkündete ich und dachte, dass ich mich beinahe anhörte wie ein Dienstmädchen -- „Wenn die Herrschaften bitte zu Tisch kommen wollen."

Etwas steif standen die drei auf und begaben sich in die Küche. Die Stimmung schien wirklich sehr frostig zu sein. Blieb nur zu hoffen, dass sie beim Essen etwas auflockerte.

Paulo trottete auf mich zu und stupste mich erwartungsvoll mit der Schnauze an.

„Ja, mein Lieber, du kriegst auch was", murmelte ich. Zum Glück hatte ich vorhin meinen Rucksack gleich mit ins Haus genommen, darin hatte ich seinen Fressnapf und ein paar Dosen Hundefutter verstaut. Ich stellte ihm etwas in den Flur und beeilte mich dann, in die Küche zu kommen.

Das Essen war wirklich lecker, aber keiner von uns konnte es so richtig genießen. Es lag eine unangenehme Spannung im Raum, die jedem auf die Nerven ging, außer Lina. Nachdem Tanja sie gestillt hatte, war sie friedlich in ihrer Tragschale auf der Sitzbank zwischen ihren Eltern eingeschlafen. Ich saß neben Tanja, mir gegenüber hatten Georg und Hannelore Platz genommen.

Die beiden Frauen unterhielten sich gespielt zwanglos über dieses und jenes, ich weiß nicht mehr, was. Tanjas Vater vertrieb sich die Zeit damit, mich mit strenger Miene beim Essen zu beobachten, mein Vater hatte längst auf Durchzug geschaltet und ich traute mich nicht, was zu sagen, weil ich mich wie das fünfte Rad am Wagen fühlte. Kurz gesagt, es war wahnsinnig gemütlich.

Mir fiel fast die Gabel aus der Hand, als Georg Winter mich plötzlich direkt ansprach.

„Was machen Sie eigentlich beruflich?"

„Ich?", fragte ich etwas dümmlich zurück, fing mich aber schnell wieder. „Ich bin Umweltwissenschaftlerin."

Er nickte. „Aha, Sie haben studiert."

Ob er das jetzt gut oder schlecht fand, war nicht ersichtlich. Ich beschloss, ersteres anzunehmen.

„Welches Fachgebiet?", fragte er weiter und spießte eine Kartoffel auf seine Gabel.

„Meereskunde." Ich hatte den Eindruck, dass er irgendetwas mit diesem Verhör bezweckte, mir war nur nicht klar, was. Mein Vater hatte den Kopf gehoben und warf ihm einen schrägen Blick zu. Offenbar dachte er das Gleiche wie ich.

„So, interessant", bemerkte Georg. „Dann sind Sie sicher auch viel auf See, nicht wahr?"

Ich zuckte mit den Schultern. Auch? „Kommt durchaus vor", erwiderte ich vage.

Er lächelte, als wollte er eine witzige Bemerkung machen. „Das liegt wohl im Blut, dieses... Seefahrer-Gen. Lieber draußen in der Ferne, als daheim bei den Lieben. Ja ja..."

Mit einem Mal hatte seine Stimme einen unterschwellig bösartigen Klang angenommen.

Mein Vater richtete sich langsam auf und sah ihn direkt an. „Worauf willst du hinaus?", fragte er gefährlich ruhig.

„Ich bitte dich", antwortete Georg betont freundlich. „Ich unterhalte mich lediglich ein wenig mit deiner Tochter. Die dir, wie ich finde, erstaunlich ähnlich ist, obwohl sie sich wohl nicht viel von dir hat abschauen können. So selten, wie du vermutlich zu Hause warst..."

Mein Vater ließ klirrend Messer und Gabel fallen, worauf Tanja aufsprang und mit übertriebener Fröhlichkeit verkündete, sie würde jetzt den Nachtisch holen. Aber das Unglück war nicht mehr aufzuhalten, nicht einmal durch Mousse au Chocolat. Jetzt, so war ich mir sicher, hatte Georgs letztes Stündchen geschlagen.

Aber ich irrte mich. Mein Vater suchte meinen Blick.

„Was sagst du dazu?", herrschte er mich an, als hätte ich ihm den versteckten Vorwurf gemacht.

„Wolf, bitte", versuchte Tanja mir aus Richtung Kühlschrank zu Hilfe zu kommen und ihre Mutter sagte: „Ach Kinder, es war doch grad noch so gemütlich." Die Frau hatte Humor.

Ich wäre am liebsten sofort ins Auto gesprungen und mit Vollgas nach Hause gefahren, aber ich konnte mich keinen Millimeter vom Fleck rühren. Er hielt mich mit seinen zornfunkelnden Augen gnadenlos fest und kauerte auf seinem Platz wie ein Raubtier, das bereit ist zum Sprung auf die Beute.

„Na los!", donnerte er, als ich immer noch keinen Ton von mir gab und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Teller klirrten und Lina mit einem Wimmern aufwachte.

„Sag 's schon! Sag mir ins Gesicht, dass ich ein schlechter Vater bin!"

„Mein Lieber", mischte sich Hannelore tapfer ein, „es hat doch hier niemand behauptet..."

„Schnauze!"

Auf diesen groben Ausdruck -- den er nur aus seiner Wut heraus gesagt hatte -- folgten einige empörte Ausrufe von Tanja und ihrem Vater, während ihre Mutter nur erschrocken auf ihrem Platz zusammensank.

Er kümmerte sich nicht darum, sondern starrte mich an, die Augen fast zu Schlitzen zusammengekniffen.

„Du denkst doch genau wie er! Dann sprich es auch aus", zischte er.

Ich holte tief Luft und erwiderte seinen Blick so fest ich konnte.

„Du warst kein schlechter Vater", sagte ich langsam. Eine kurze Pause folgte, in der alle die Luft anzuhalten schienen, weil sie spürten, dass noch etwas kommen musste.

Ich schloss kurz die Augen und setzte dann hinzu: „Du warst überhaupt kein Vater."

Es war erstaunlich, wie still es nach diesem Satz in der Küche wurde. Man hätte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können. Selbst Georg, der diese Katastrophe -- willentlich oder nicht -- herbeigeführt hatte, war sprachlos.

Das Gesicht meines Vaters war zunächst ruhig, so ruhig, dass ich dachte, der Sturm hätte sich wieder gelegt. Dann aber sprang er unvermittelt auf und drängte sich aus der Sitzecke heraus, so grob, dass er Tanjas und mein Geschirr zu Boden fegte. Teller und Gläser zerbrachen scheppernd. Hätte ich nicht rechtzeitig die Flucht ergriffen, er hätte mich ebenfalls ohne jede Rücksicht zur Seite gestoßen.

Tanja und ihre Mutter schrien auf, Lina weinte lauthals, Georg schimpfte irgendetwas, Paulo bellte -- nur ich stand stumm mit dem Rücken an die Wand gepresst und sah mit hart schlagendem Herzen zu, wie mein Vater mit versteinertem Gesicht aus der Küche stürmte. Am Poltern im Flur hörte ich, wie er ungeduldig in seine Stiefel fuhr und schließlich seinen Mantel überwarf. Tanja lief ihm nach und flehte ihn weinend an, sich zu beruhigen, aber er reagierte überhaupt nicht. Im nächsten Augenblick fiel die Haustür krachend ins Schloss.

Ich hatte das Gefühl, in einem Albtraum zu stecken. Was war da eben in ihn gefahren, mich anzugreifen, obwohl sein Schwiegervater... Und was war in mich gefahren, so etwas zu sagen?

Wir sind uns wirklich ähnlich, dachte ich bitter. Wir sind beide verdammt ungerecht, wenn wir streiten.

Tanja kam langsam zurück in die Küche, in der es aussah wie auf einem Schlachtfeld. Scherben und Essensreste hatten sich fast über den ganzen Boden verteilt. Wie betäubt ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und weinte. Es war ein leises, verzweifeltes Weinen, was mir einen Stich versetzte. Dazu das Schreien des Babys -- letzten Endes war es alles meine Schuld. Wäre ich nicht hier gewesen an diesem Abend, der eigentlich fröhlich hätte verlaufen sollen, dann...

„Nun wein mal nicht", sagte Hannelore etwas hilflos. „Der kommt schon wieder."

Ihr Mann lachte nur hart auf. „Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns das wünschen sollen." Unwirsch sah er seine Tochter an. „Ja, jetzt ist das Gejammer groß. Ich hab dir gleich gesagt, lass die Finger von dem Kerl, der ist nicht in Ordnung. Das hast du jetzt davon!"

Ich hielt es hier drin nicht mehr aus. Entschlossen machte ich einen Schritt nach vorn und legte Tanja die Hand auf die Schulter.

„Es tut mir Leid", sagte ich stockend. „Ich werd mit ihm reden, er kann ja noch nicht weit sein."

Erschrocken sah sie zu mir auf, eine Träne rann langsam über ihre Wange. „Lieber nicht", bat sie mich. „Lass ihn lieber in Ruhe."

„Schon gut, ich hab keine Angst vor ihm", beruhigte ich sie, drückte noch einmal ihre Schulter und verschwand dann schnell aus der Küche.

Paulo sprang mir entgegen, er bellte und wedelte mit dem Schwanz, diesmal als Zeichen seiner Aufregung. Den armen Hund machte der ganze Ärger hier völlig verrückt. Angespannt postierte er sich neben der Haustür, als ich hastig meine Schuhe anzog und in meinen Mantel schlüpfte. Wahrscheinlich dachte er, dass wir endlich nach Hause fuhren.

Tanja war mir gefolgt und redete jammernd auf mich ein, fast wie sie es eben bei ihrem Mann getan hatte. Ich hörte nur mit halbem Ohr hin. Die Türklinke schon in der Hand, drehte ich mich noch einmal zu ihr um.

„Ich hab den Abend versaut", sagte ich fest, „und ich bügel es auch wieder aus. Kümmer dich um Lina. Bis später!"

Damit riss ich die Haustür auf und stürmte nach draußen in den windigen Herbstabend.

Ich nahm nicht das Auto, weil ich davon ausging, dass er zu Fuß unterwegs war um sich besser abzureagieren. Meinem Gefühl folgend wandte ich mich nach links, in Richtung Hafen. Wo findet ein mit dem Meer verwurzelter Einzelgänger Zuflucht nach einem Streit? Mit Sicherheit eher auf seinem alten Krabbenkutter als in einer lärmigen Bar.

Erst jetzt, als ich im Laufschritt die stille Straße entlang lief, merkte ich, dass Paulo neben mir war. Auch gut. Für ihn war es allemal angenehmer, mit mir draußen herumzurennen, als mit fremden Leuten in einem Haus eingesperrt zu sein und nicht zu wissen, wo seine Bezugsperson steckte.

Ich bog in die nächste Straße ein. Hamburg war mir fast so vertraut wie meine Westentasche, gerade das Hafengebiet. Eine große Westentasche, zugegeben, aber immerhin war ich hier aufgewachsen und hatte ein gutes Gedächtnis für Straßennetze. Wenn mir mein Job mal nicht mehr gefiel, konnte ich Taxifahrerin werden.

Etwas mehr als hundert Meter vor mir erkannte ich im Licht der Straßenlaternen eine dunkel gekleidete Gestalt. Sie lief zwar nicht, ging aber sehr schnell. Ich wusste sofort, dass er es war.

„Hey!", rief ich zwischen zwei Atemzügen. „Warte!"

Er musste mich gehört haben, aber weder ging er langsamer, noch drehte er sich um. Ich rief ihn noch ein paar Mal ohne Erfolg, dafür mit immer stärkeren Seitenstichen. Ich war schon lange nicht mehr so gerannt und musste stehen bleiben. Verzweifelt starrte ich ihm hinterher.

„Papa!"

Ich weiß nicht, warum mir gerade in diesem Moment zum ersten Mal in meinem Leben dieses Wort über die Lippen kam. Jedenfalls wirkte es. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen, drehte sich aber immer noch nicht um.

Mit neuer Hoffnung fing ich wieder an zu laufen und hatte ihn schließlich eingeholt. Außer Atem blieb ich neben ihm stehen. Er warf mir nur einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel zu und ging dann ohne ein Wort zu sagen weiter. Ich ließ mich nicht beirren und hielt mit ihm Schritt. Eine eigenartige Spannung lag zwischen uns in der Luft, aber er strahlte keine unmittelbare Aggression mehr aus, was ich als gutes Zeichen wertete.

Nach gut zehn Minuten erreichten wir den alten Altonaer Fischereihafen. Ich hatte recht gehabt, er wollte tatsächlich zu seinem Kutter.

Ich stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als er auf ein kleines Schiff von etwa zwanzig Metern Länge zuhielt, an der typischen Rumpfform mit dem fast senkrechten Vorsteven sofort als Kutter zu erkennen.

„Das ist also dein neues Hobby", brach ich das Schweigen. Auch im diffusen Licht, was hier herrschte, konnte ich erkennen, dass das überwiegend hölzerne Schiff gut in Schuss war. MARIANNE entzifferte ich den weißen Schriftzug am Bug.

Er brummte nur etwas in seinen Bart, aber ich gab nicht auf.

„Wie alt ist sie denn, deine „Marianne"?"

„Baujahr '76", antwortete er kurz und ging mit einem großen Schritt an Bord. Ohne zu zögern folgte ich ihm. Als auch Paulo hinterher sprang, sah er mich scharf an.

„Wehe, dein Köter wagt es, hier einen Haufen zu machen!"

„Ich kenn mich nicht besonders gut aus mit Kuttern", sagte ich freundlich. „Magst du mir vielleicht was drüber erzählen?"

Mein Interesse -- das nur zum Teil vorgeschoben war, ich wollte wirklich etwas über das Schiff wissen -- schien ihn tatsächlich ein wenig zu versöhnen. Er zeigte mir die hydraulischen Winden, mit denen die Netze für die „Hols" auf den Grund gebracht und wieder eingeholt wurden und das Förderband, auf dem der Fischer seinen Fang sortierte. Es war erstaunlich, wie viel er nicht nur über die Technik wusste, sondern auch über die Geschichte des Krabbenfangs.

„Tja, die Blütezeit der Küstenfischerei ist lange vorbei", sagte er mit Bedauern in der Stimme, als wir schließlich in das kleine Ruderhaus gingen. „Heute kann so 'n kleiner Fischer froh sein, wenn er die Kosten für 'ne Fahrt wieder reinkriegt. Na, und von den schrumpfenden Fischbeständen muss ich dir wohl nichts erzählen, damit kennst du dich ja aus."

Ich nickte und schaute an ihm vorbei aus dem Fenster. „Alles hat seine Zeit", sagte ich langsam. Dann räusperte ich mich verlegen. Jetzt gerade schien mir meine Zeit gekommen.

„Es tut mir Leid, was ich vorhin gesagt habe."

Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er einen erneuten Wutanfall bekommen würde, aber er überraschte mich. Erst warf er mir nur einen schiefen Blick zu, dann antwortete er: „Man soll sich nicht entschuldigen, wenn man recht hat."

Verblüfft sah ich ihn an. „Was?"

Er ging an mir vorbei zum Steuerrad und legte die linke Hand darauf, als wäre er am liebsten sofort losgefahren. „Natürlich hast du recht", sagte er ungeduldig. „Ich war kein Vater für dich. Wie auch? Ich war ja nie da."

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte mich an die Wand. Ein solches Gespräch hatten wir noch nie geführt.

„Und warum bist du dann vorhin so ausgerastet?", fragte ich auf die Gefahr hin, ihn zu provozieren. „Wenn doch dein Schwiegervater und ich recht haben?"

Er starrte nach draußen auf das schwarze, durch den Wind bewegte Wasser, welches klatschend gegen die Bordwand schlug und den Kutter beständig schaukeln ließ.

„Weil die Wahrheit weh tut", erwiderte er schließlich heiser.

„Und warum hat bisher jedes Mal, das wir uns gesehen haben, im Streit geendet? Hab ich dir etwa jedes Mal irgend 'ne Wahrheit gesagt, die du nicht hören wolltest?" Meine Worte klangen spöttisch, aber er wurde immer noch nicht wütend.

Jetzt sah er mir wieder ins Gesicht und grinste leicht. „Das nicht unbedingt, aber du bist mir einfach zu ähnlich. Zwei Sturköppe auf einem Haufen, das geht nicht lange gut."

Lange schaute ich ihn einfach nur an, dann sagte ich: „Ich glaub, wir hätten uns richtig gut verstanden, wenn wir mehr Zeit zusammen gehabt hätten. Versteh mich nicht falsch", fuhr ich schnell fort, „ich war nie wütend auf dich, weil du so selten da warst. Im Gegenteil, ich war immer stolz darauf, einen Vater zu haben, der als Kapitän zur See fährt. Und als du bei meiner Abiturfeier warst... da hab ich mich so was von gefreut. Spätestens da wusste ich sicher, dass ich dir irgendwie wichtig bin."

„Sieben Jahre ist das schon her", sagte er mit einem fast wehmütigen Unterton. „Da hab ich eine hübsche junge Frau gesehen, die ihre Kindheit längst hinter sich hatte und jetzt selbst raus in die Welt wollte -- und ich war weiß Gott stolz auf sie, auch wenn ich nichts zu ihrem Erfolg beigetragen hatte -- , aber ich hatte nicht das Gefühl, dass sie meine Tochter ist."

Was wollte er damit sagen? Verwirrt schüttelte ich den Kopf.

„Was meinst du damit?"

„Genau das, was du vorhin zu mir gesagt hast", antwortete er und sah mich durchdringend an. „Du warst genauso wenig eine Tochter für mich wie ich ein Vater für dich. Wir sind uns ähnlich, schön, und wir verstehen uns gut, zumindest manchmal -- aber wenn ich dich ansehe, dann..." Er brach ab.

„Was?", bohrte ich nach.

„Nichts!", knurrte er ruppig und wandte sich abrupt ab.

Da war sie wieder, diese seltsame Spannung zwischen uns. Ich spürte auch die Nervosität zurückkehren, die heute Nachmittag in mir gewesen war, bevor wir uns wiedergesehen hatten.

Trotzdem reizte ich ihn weiter.

„Sag schon", verlangte ich, während ich langsam näher an ihn herantrat. „Wenn du mich ansiehst, dann was? Würdest du mir am liebsten eine scheuern? Mir den Hals umdrehen? Mich ertränken? Auf den Mond schießen? Oder..." Jetzt stockte ich, weil mir ein völlig absurder Gedanke durch den Kopf ging.