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Familie Undercover 01/12: Bewerbung

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„Ach, die haben doch schon oft gestritten." Hanna löffelte zuerst den Nachtisch, klumpigen Vanillepudding. Mir wurde schon vom Zusehen schlecht. „Die vertragen sich auch wieder. Das Traumpaar von Wikkelshölle trennt sich doch nicht!"

Das Traumpaar der Schule. Derek und Annalisa. Natürlich wusste ich, von wem die Rede war. Die beiden waren in der zehnten, drei Klassen über mir. Derek war groß und stark und trainierte in jeder freien Minute wie ein Irrer. Er sah aus wie eine aufgepumpte Karikatur von Arnold Schwarzenegger. Sogar die Lehrer hatten Angst vor ihm.

Und Annalisa war seine Königin. Ein frühreifes, leicht pummeliges Ding, dessen Lachen sich anhörte wie Möwenkreischen. Keiner mochte sie richtig, aber sie hatte sich Derek geangelt, mit voller Absicht und mit vollem Körpereinsatz. Die ganze Schule wusste, was lief, wenn die beiden nachmittags verschwanden. Das hatte sogar ich mitbekommen, mit der kaum jemand redete.

„Nein. Die sind sowas von auseinander." Birgit gestikulierte mit ihrer Gabel. „Und das eröffnet doch neue Chancen, oder?"

„Was?" Hannas Löffel stoppte vor ihrem Mund. Pudding tropfte zurück in die Schale. „Meinst du etwa..."

„Annalisa hatte das schönste Leben, oder?", murmelte Birgit. „Alle waren scheißfreundlich zu ihr, immer. Keiner ist ihr blöd gekommen, dazu hatten alle zu viel Schiss vor Derek. Ich wette, er findet schnell Ersatz. Man muss ihn nur ranlassen."

„Iiih!" Hanna ließ den Löffel fallen. „Überlegst du dir das ernsthaft? Mit diesem Muskelprotz? Der reißt einen doch glatt auseinander!"

„Nee. Natürlich nicht." Birgit lachte unbehaglich. „Ich bin doch keine Nutte! Außerdem habe ich ein Auge auf Andy geworfen. Du weißt schon, der Azubi bei dem Steinmetzbetrieb."

„Ahaaaa!"

In der Art ging es weiter. Erst um Andy und dann um das neue iPhone 6, das im Herbst rauskommen sollte. Das interessierte mich nicht, das konnte ich mir sowieso nie leisten. Die Informationen zu Derek und Annalisa speicherte ich dagegen sorgfältig ab. Den beiden würde ich auf absehbare Zeit mindestens einen Kilometer aus dem Weg gehen, die waren sicher besonders übel drauf. Gut zu wissen!

Ich nahm das Tablett und huschte nach hinten, zum Laufband für die Geschirrrückgabe. In Gedanken war ich noch bei der Trennung des Traumpaares und den möglichen Verwicklungen für mich. Wahrscheinlich war ich deshalb nicht so aufmerksam wie sonst. Der Hieb erwischte mich genau zwischen den Schulterblättern. Ich stolperte nach vorne und knallte gegen die Edelstahlfront des Laufbands. Plastikschalen und Essen flogen durch die Gegend. Sofort kam zustimmendes Gegröle von den Tischen.

„He, du vollkommen verblödete Nuss!" Gerda ragte über mir auf, die Hände in die Hüften gestemmt. „Pass doch auf, wohin du läufst. Jetzt bist du über meine Füße gestolpert."

Und mit funkelnden Augen trat sie mir voll in den Bauch. Ich lag verkrümmt auf dem Boden und schnappte nach Luft. Tränen kamen keine. Das hatte ich mir zu dem Zeitpunkt schon abgewöhnt. Doch es tat gemein weh.

„Was ist da los?" Eine Küchenhilfe beugte sich über den Tresen. „Das putzt ihr gefälligst sofort auf, ja?"

„Na klar." Gerda zeigte auf mich. „Der Goldengel ist schuld. Er wird das gleich saubermachen." Und mit einem düsteren Grinsen im Vollmondgesicht hüpfte sie hinaus.

Ich stemmte mich hoch, sammelte die Trümmer ein und holte mit gesenktem Kopf einen Eimer und den Wischmop. Jeder, der vorbeikam und sein Tablett auf das Band setzte, gab mir einen blöden Spruch mit. Dann wurde es schnell dünner. Die erste Nachmittagsstunde begann gleich.

Mir wurde klar, dass ich zu spät kommen würde. Der Pudding, den ich nicht gegessen hatte, triefte von der Wand, fast bis zur Decke hochgespritzt. Das schaffte ich nie rechtzeitig. Also wieder eine Strafarbeit. Die von vorgestern war auch noch offen. Da hatte mir jemand Klebstoff ins Haar geschmiert. Meine weißblonden Strähnen zogen den Ärger an wie ein Magnet.

Mit zusammengebissenen Zähnen rubbelte ich an der Wand und stellte mir dabei die ganze Zeit vor, wie ich auf den Schienen stehe. Wie der Zug näherkommt. Schnell. Das Heulen der Sirene, als der Lokführer mich sieht. Ich breite die Arme aus, ganz ruhig, und sehe ihm entgegen. Kreischende Bremsen, viel zu spät. Ob ich wohl den Aufprall noch spüre?

Klang nicht schlecht. Die Bahntrasse verlief keine zehn Minuten entfernt. Noch vor dem Ende der ersten Nachmittagsstunde könnte alles vorüber sein.

Nur der Gedanke an Gerda hielt mich zurück. Sie würde sich keineswegs betroffen fragen, ob sie vielleicht die Schuld trug. Sie würde höchstens die Schulter zucken und meinen, das wäre sowieso das Beste für die kleine Siena. Und sich ein anderes Opfer suchen.

Wenn ich nur stark genug wäre! So stark wie Derek, zum Beispiel. Dann würde ich Gerda...

Ich erstarrte, den Mop in den Händen. Mir wurde heiß und kalt. Die Idee war zunächst so gewaltig, dass ich kaum danach zu greifen wagte.

Am nächsten Tag verführte ich Derek. Der blanke Horror! Aber eine Woche später fand man Gerda im Andachtsraum. Sie steckte in einem Büßerhemd aus der Requisite des Schultheaters. Jemand hatte sie an den Altar gebunden, ihr den Kopf blankgeschert und sie überall grün und blau geschlagen. Sie rückte nicht heraus, wer das war, sondern akzeptierte die Strafe von Schulleiters Mössner für ihre mangelnde Mitwirkung bei der Aufklärung dieses Vergehens.

Mein Leben nahm eine drastische Wende zum Besseren.

Oder anders ausgedrückt: Ich war im tiefsten Kreis der Wikkelshölle angekommen.

***

Mit einem Mal war ich ganz ruhig, als ich auf dem Fass balancierte und ins Flusstal hinaussah. Was machte ich mir eigentlich Sorgen? Ich wusste doch, wie das lief. Was ich zu tun hatte. Ich kannte den Preis. Und auch, was ich erreichen konnte, wenn ich ihn bezahlte.

„Super!", meinte ich, Begeisterung in der Stimme. „Aber sieht man das nicht oben vom Turm aus noch viel besser?"

„Äh -- ja, schon. Aber... da muss ich erst noch ein paar Stufen reparieren. Das ist im Moment nicht sicher." Die Finger legten sich noch etwas enger um meine Taille.

„Aha." Ich blickte hinab, ins bärtige Gesicht meines Vaters. Er wirkte so harmlos, so nett. Wie ein großer Teddybär. „Kannst du mich runterheben?"

Er grinste und nickte. Im nächsten Moment stand ich vor ihm. Dicht. In einer halben Umarmung. Fast hätte ich gekichert, so bekannt kam mir das Skript vor. Überhaupt verspürte ich nur noch Übermut. Keine Spur mehr von den Fragen und Sorgen, die mich vor einer Minute noch zerfressen hatten.

„Beim Bau muss man eng zusammenarbeiten, richtig?" Ich schaute ich zu ihm hoch. Locker, freundlich, aber ohne zu lächeln. Zu einfach brauchte ich es ihm auch nicht zu machen.

„Eh -- das stimmt." Er grinste erfreut. Offenbar schöpfte er keinen Verdacht, weil ich seinen Spruch gebracht hatte. „Das kennst du also schon?"

„So ungefähr. Ich hatte schon mit Handwerkern und Bauleuten zu tun."

„Dann weißt du ja sicher, was das heißt, Siena." Er zog mich näher an sich. Sanft, aber ich spürte die Kraft in seinen Armen.

„Was denn?" Ich legte den Kopf schief.

„Das hier", murmelte er. Und beugte sich vor und küsste mich.

Äußerlich blieb ich ungerührt. Aber innen fuhr ich zusammen, als seine Lippen auf meine trafen. Mein Vater! Er küsste mich! Nicht als Tochter - als Partnerin. Als Geliebte in spe. Als Praktikantin und günstige Sex-Gespielin. Meine Nonchalance kam ins Rutschen. Mit aller Macht klammerte ich mich an die Erinnerung an Derek. An Gerdas Gesicht.

Mike bemerkte meine mangelnde Kooperation und ging eine Handbreit zurück. Schaute mich prüfend an. „Nicht gut?", fragte er in leichtem Tonfall.

„Das weiß ich noch nicht", gab ich zurück. Durchaus wahrheitsgetreu, doch er nahm es als Flirten.

„Dann solltest du das herausfinden, bevor du den Vertrag unterschreibst, oder?"

Er küsste mich erneut. Etwas nachdrücklicher jetzt. Seine Lippen drängten, verlangten eine Antwort. Eine Hand hatte er mit gespreizten Fingern auf meinen unteren Rücken gelegt und drückte mich dort an sich dran.

Immer noch flirrte unziemliche Heiterkeit in meiner Brust, unterlegt mit leisem Grauen. Ich sollte mich entscheiden? Na schön! Er würde sich noch wundern, aber sowas von!

„Mhh!"

Mit Verve schlang ich ihm die Arme um den Hals und presste mich der Länge nach an ihn dran. Dazu ging ich auf die Zehenspitzen. Ich öffnete die Lippen, hübsch langsam, und leckte an seiner Zunge, sobald diese in meinen Mund drang. Dabei sahen wir uns in die Augen. Seine weiteten sich vor Überraschung, verfolgte ich. Die Haare seines sorgsam gestutzten Vollbarts piekten mein Gesicht.

Wie fühlt sich das an?, fragte ich mich, beinahe schwebend in dieser seltsamen Distanzierung von mir selbst, die mich umfangen hielt. Einfache Antwort: Wie sonst auch. Wie bei den anderen Männern, die ich hatte. Die mich hatten. Das Verlangen, die unterdrückte Gier, die sich Bahn brach. Muskeln, die sich anspannten, um mich herum. Ein harter Leib, eine Zunge, die meine Mundhöhle besetzte und ausfüllte.

Es war so einfach, mich hineinfallen zu lassen. Mich anzupassen, mitzugehen. Bereit zum Schmelzen, wie Zinn unter einer Lötlampe. Mein Körper reagierte völlig normal, wie immer. Er wollte es auch, eindeutig. Und wie -- jetzt erst bemerkte ich, wie ausgehungert ich war. Es fühlte sich an, als würden alle Zellen die Fühler ausstrecken und sich behaglich in der Wärme räkeln, die mich durchströmte. Kein Wunder! Das letzte Jahr hatte ich mich voll auf das Abi konzentriert, anstatt auf die Jungs.

Mike war mein Vater, ja. Doch er wusste es nicht, und er verhielt sich nicht so. Wenn ich es ihm nicht sagte -- und das war eine mehr als reale Möglichkeit -- dann würde er es nie erfahren. Selbst, falls wir uns noch jahrelang sahen: Wir wären einfach zwei Erwachsene, die vielleicht mal was miteinander gehabt hatten. Für ihn zumindest.

Für mich? Keine Ahnung. Es war ja nicht so, dass ich mich mit Vätern auskannte. Zuerst einer, der sich vor meiner Geburt aus dem Staub machte. Dann einer, für den ich immer nur Instrument war, um eine tolle Frau an sich zu binden, indem er ihr und ihrem Kind ein Zuhause gab. Geld, letztlich. Und falls man Direktor Mössner noch zählen wollte, als eine Art Ersatzvater: Dieser schockgefrorene Sadist hatte sein „didaktisches Konzept" als Gefreiter bei der Fremdenlegion gelernt. Noch Fragen?

Mike knurrte und hob mich fast von den Füßen, die Finger einer Hand um meine linke Arschbacke gekrallt. Ich schnaufte und seufzte und rieb mich an ihm. Den Schenkel presste ich absichtlich gegen den heißen Knauf, der mir entgegen wuchs. Er leckte mich so tief in die Kehle, dass ich beinahe einen Würgereiz spürte, aber einen seltsam süßen. Er war fast einen Kopf größer als ich und sicher doppelt so schwer. So ähnlich musste es sich anfühlen, in einer Ganzkörper-Bärenfalle zu stecken.

Oh Gott, diese Hitze, die in mir aufwallte! Würde er mich hier und jetzt nehmen? Vielleicht über das Fass gelegt, von hinten? Wie er sich wohl anfühlte, in mir? Wenn er eindrang? Ob sein bestes Stück auch so groß und massiv ausfiel wie sein Körper? Ob er mich damit...

Unvermittelt riss er den Mund von mir und stellte mich zurück auf den Boden. Wir keuchten beide, und wahrscheinlich flackerte in meinem Blick derselbe Wahnwitz, den ich bei ihm wahrnahm. Er schluckte und wollte etwas sagen, suchte nach Worten. Doch schließlich schüttelte er nur den Kopf und ließ mich los, mit einem eigentümlichen Ausdruck im Gesicht.

Die Hitze des Moments strömte aus mir heraus. Durch die Füße, so als ob ein Boden aus Eis mir die Energie entziehen würde. Zurück blieb nur kalte Leere. Was war das jetzt gewesen? Und wie würde er reagieren? Ernüchtert wischte ich mir unsere vermischte Spucke von den Lippen.

„Wir... ah, wir gehen besser wieder runter", murmelte er, ohne mich aus den Augen zu lassen.

Ich nickte nur. Meiner Stimme traute ich gerade nicht. Wider Erwarten schaffte ich es, vor ihm her die schiefen Holzstufen hinunter zu staken, ohne dabei über die eigenen Knie zu stolpern. Das Herz schlug hart und ungleichmäßig in meinem Hals.

Draußen sparte er sich den Rest der Führung. Er brachte mich direkt zurück zum Büro, und das war mir mehr als recht so. Mein Kopf platzte beinahe vor Fragen und Eindrücken. Und von einer Million nicht herausgeschrienen Dingen, die unter meiner Zunge vor sich hin brodelten und nach einer Lücke in der Mauer suchten.

Im Büro ließ er sich diesmal schwer in den Ledersessel hinter dem Schreibtisch fallen. Dieser bildete so eine schützende Barriere zwischen uns. Ich kroch auf den Stuhl, über dessen Lehne noch mein Rucksack hing und machte mich so klein wie möglich. Wir sahen uns an, über die Länge des Raumes hinweg.

„Ich... hrm, ich denke, das war eine nützliche Führung, oder nicht?", murmelte er tonlos. „Wir wissen nun beide, was... hrm!"

Lost! Komplett verwirrt. Was meinte er? Was war das gerade? Wer war ich?

„Bekomme ich den Job?", hörte ich mich fragen.

„Das, äh, kann ich noch nicht sagen." Er nahm irgendwelche Papiere und blätterte darin herum. „Es gibt noch weitere Bewerber. Ich gebe dir Bescheid. Morgen, ja?"

Ich nickte, als würde ein Puppenspieler mein Kinn an einer Schnur auf und ab bewegen, und stand auf. Nahm den Rucksack.

„Dann... danke." Ich schluckte und zwang Luft in meine Lungen. „Für alles."

„Oh. Nichts zu danken." Mike sah mich nicht mehr an, sondern auf das Papier.

Er hatte recht. Wozu bedankte ich mich bei ihm? Für die Knutscherei gerade? Das hatte ich schon besser erlebt. Für die erbärmliche Führung? Für achtzehn fehlende Jahre?

Ich schritt aus dem Büro. Kerzengerade, mit erhobenem Kopf. Wahrscheinlich sollte ich ihm dankbar sein. Wahrscheinlich war mein ganzer, verworrener Plan von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Was machte ich überhaupt hier? Er hatte mich nie gewollt. Nicht als Tochter. Warum sollte sich das ausgerechnet jetzt geändert haben? Oder noch ändern, jemals?

Die Bürotür fiel ins Schloss. Ich stand im Flur. Die Eingangstür am Ende des Gangs schien zu wabern, so als würde dort heiße Luft aufsteigen. Sie war sechs oder sieben Meter vor mir. Zehn Schritte, Maximum. Dann war ich draußen.

Frei.

Erlöst.

Weg von allem.

Alleine, endlich.

Alleine mit über acht Milliarden anderen Leuten, von denen sich keiner auch nur im Entferntesten für mich interessierte.

Ich konnte tun und lassen, was immer ich wollte. Einen Job annehmen, oder arbeitslos bleiben. Studieren oder ins Ausland reisen. Bundeskanzlerin werden oder Anführerin einer Verbrechergang. Ich konnte mich um andere kümmern oder jemand umbringen. Wissenschaftlerin werden oder Rockstar. Ich konnte sogar den verfickten Grand Prix de la Chanson gewinnen, wenn ich nur wollte.

Nur: Es spielte keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle.

Ich machte einen Schritt auf die Tür zu. Noch einen. Dann zwang mich etwas in die Knie. Jemand hatte eine Tonne Blei in meinem Rucksack versteckt.

Ein Laut drang an meine Ohren. Ein derart gequälter Schrei, dass mir sofort vor Mitgefühl das Wasser in die Augen schoss. Eine verlorene Seele, die in den tiefsten, schwärzesten Abgründen der Hölle gefoltert wurde.

Mit Verspätung wurde mir klar, dass es mein Hals war, die knirschte vor angespannten Muskeln. Mein Mund, so weit geöffnet, dass die Kiefergelenke knackten. Meine Brust, aufgerissen und roh, als sei eine Handgranate darin explodiert. Meine Stimme. Mein Schmerz, weißglühend.

Nein! Ich musste aufstehen, fliehen! Weg hier. Stark sein. Heftig blinzeln, um wieder freie Sicht zu bekommen. Doch ich schwankte nur auf den Knien vor und zurück, wie ein Hochhaus beim Erdbeben. Große Stücke brachen ab und stürzten in die Tiefe, rings um mich herum.

„Siena? Was...?"

Hände packten mich, zogen mich hoch, ins Stehen. Ein bärtiges Gesicht tanzte vor mir, verzerrt von den Regentropfen auf meinen Pupillen. Grünbraune Augen, voller Wärme und ehrlichem Kummer.

„Es -- es tut mir so leid", flüsterte Mike. „Das wollte ich nicht. Bitte!"

Die Worte trafen mich genau ins Herz. Mir war schon klar, dass er nur die kleine Anmache im Dachstuhl meinte, nicht mehr. Und dennoch! Er sorgte sich um mich, jetzt gerade. Aufrichtig. Das hörte ich.

Mit einem zerquetschten Schrei klammerte ich mich an ihn und schluchzte los. Es gab nichts mehr zu halten. Welle auf Welle schoss es durch mich hindurch, heiß, aus meinen Augen. Auch aus meiner Nase, meinem Mund. Er hielt mich und wiegte mich sanft hin und her, während ich seine Hemdbrust großflächig mit Tränen und Rotz durchtränkte.

So schlimm. Und so unsagbar gut, gleichzeitig, irgendwie.

„Um Gottes Willen! Was ist denn mit ihr?" Eine weibliche Stimme.

„Ich, äh, ich weiß nicht genau", hörte ich Mike raunen und spürte, wie er sich schuldbewusst krümmte. „Sie, äh, sie ist hier plötzlich zusammengebrochen."

„Papa, was... oh?"

Die ganze Familie um mich herum. Mir war das egal. Mir war alles egal, solange ich nur für einige Augenblicke länger diese Sorge um mich spüren konnte. Diese behutsamen Hände auf meinem Rücken.

Sie sprachen miteinander, betroffen. Ich hörte nicht hin.

Nur Spüren.

Schweben.

Träumen...

Irgendwann wurde ich sanft auf die Füße gestellt. Große Hände hielten mich um die Oberarme, sicherheitshalber. Ich riss mich zusammen und bekam einen Schluckauf. Das brachte mich zum Lachen. Alle zuckten zusammen bei diesem schrecklichen Laut. Also schluchzte ich lieber weiter.

„Komm mit, Mädchen. Du brauchst dringend eine Schokolade."

Meine Mutter nahm mich und führte mich in eine warme Küche. Ich klammerte mich an sie, doch sie schob mich sanft auf eine Bank. Jemand anderes war neben mir und stützte mich. Wärmte mich. Ein Mädchen. Ihr Arm um meine Schultern fühlte sich gut an.

„Hier. Trink erst mal."

Automatisch griff ich nach der Tasse und schluckte. Heiß und süß. Unglaublich süß! Wie viel Schokolade hatte sie da nur reingekippt? Ich trank es leer, in einem Zug. Dann überfiel mich Verlegenheit, und ich stellte die Tasse auf den Tisch.

Silvia Linnemann kauerte vor mir und strich mir die feuchten Strähnen aus der Stirn. Ihre schwarzblauen Augen musterten mich eingehend. Ich erkannte Anteilnahme, aber auch Fragen. Ein Hauch von Argwohn. Klar -- gerade hatte sie ihren Ehemann mit einem hübschen, jungen Mädel um den Hals aufgefunden, die zum Gotterbarmen heulte, kaum ansprechbar.

„Tut mir leid", flüsterte ich. „Tut mir leid. Tut mir leid. Tut mir leid."

„Schon gut, Kind." Ein Lächeln, weich. „Sag uns einfach, was los ist."

Mein Blick ging von einem zum anderen. Mara neben mir glitzerten auch Tränen in den schönen Augen. Joss saß gegenüber, mit offenem Mund und bleich wie eine Kaulquappe.

Mike hatte immer noch diesen Ausdruck im Gesicht, der mich so berührte. Doch ich sah auch, wie er das Genick einzog in Erwartung des Berges, der gleich auf ihn niederstürzen würde. Sobald die Praktikantin den Mund aufmachte und allen erzählte, wozu er sie keine halbe Stunde zuvor im Dachstuhl gezwungen hatte.

„Tut mir leid", wiederholte ich und brachte irgendwie ein Lächeln zustande. „Es hat mich nur gerade so erwischt."

„Was denn?" Silvia fragte sanft, aber sie würde keine Ruhe geben.

Ich schniefte und rieb mir die Augen, um Zeit zu gewinnen. Das half nicht. Mein Kopf fühlte sich an wie ein Trümmerfeld. Kein Plan, keine smarte Ausrede. Ich konnte nur bei der Wahrheit bleiben und versuchen, durch ein paar Lücken alles ins rechte Licht zu rücken.

„Mein Vater hat mich rausgeworfen", begann ich stockend. „Vor ein paar Tagen, direkt nach dem Abi. Ich weiß nicht, wo ich hin soll. Ich dachte, wenn ich dieses Praktikum bekomme, dann habe ich erst mal einen Platz, wo ich unterkriechen kann. Ich war bereit, alles dafür zu tun. Alles! Aber als ich gerade hörte, dass es noch andere Bewerber gibt, und dass ich vielleicht nicht genommen werde, da..." Ich schloss mit einem kläglichen Schulterzucken und schlug den Blick nieder.

Doch die abgrundtiefe Erleichterung in Mikes Augen hatte ich gesehen. Schon wieder!, überlegte ich abwesend. Schon wieder schützte ich meinen Vater, obwohl der das bestimmt nicht verdient hatte. Warum nur? Lernte ich es nie?