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Dunkler Abgrund Ch. 18

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Trotz des schmerzenden Gefühls in ihrer Brust, runzelte sie die Stirn. War das nur ein neuer Trick? In welche Richtung wollte Lukan sie nun locken? Versuchte er tatsächlich an ihr Mitgefühl zu appellieren, damit sie sich von anderen Männern fernhielt? Wollte er sie durch diesen Eifersuchtsanfall dazu bringen, dass sie ihm seine Gefühle abkaufte? Damit sie sich am Tag wieder im Bett herumwarf und fragte, ob das nicht auch wieder eine Taktik von ihm war, um sie zu manipulieren?

Während sie sich langsam in ihre Wut hineinsteigerte, rastete plötzlich etwas in ihr ein. Sie rang nach Atem und ihre Augen weiteten sich, während sie in Lukans gequälte Miene blickte. Lukan konnte vielleicht hervorragend seine Umwelt manipulieren und mit seinen Taktiken lenken, doch diese Wut war echt gewesen. Dieses gelbe Glühen seiner Augen. Dieser Hass in den Tiefen seiner Pupillen. Er war außer sich gewesen. Außer sich vor Eifersucht. Vielleicht waren seine Tränen jetzt gespielt, aber seine Besitzgier und seine Eifersucht waren es mit Sicherheit nicht gewesen.

Er wollte sie tatsächlich allein für sich. Er spielte ihr nicht vor, dass es so war. Es war die Wahrheit. Dieser Mann, dieser Vampir liebte sie. Liebte sie so verzweifelt, dass er es nicht einmal ertragen konnte, wenn sie einen anderen Mann auch nur küsste. Obwohl er kein Recht dazu hatte, sich einzumischen, ertrug selbst seine instinktive, tierische Seite in ihm nicht, dass sie einen anderen Mann an ihrer Seite hatte.

Ihr Herz schwoll langsam an, bis es kaum noch Platz in ihrem Brustkorb zu haben schien. Zögernd ließ sie zu, dass sich ihre Skepsis und ihr Misstrauen legten, während ihre Hände vor Aufregung begannen zu zittern. „Du liebst mich", stieß sie hervor. Ihr wurde schwindelig, als die Erkenntnis langsam in ihr durchbrach. Er liebte sie tatsächlich! Fassungslos spürte sie, wie sich ihr die Wahrheit ausbreitete und alle Zweifel hinwegfegte. Sie bekam kaum noch Luft und fasste nach ihrer Kehle, während sich eine rauschende Wärme in ihr ausdehnte.

Lukan war da, um sie zu halten, als sie leicht wankte. Er schien zu spüren, dass sich etwas geändert hatte, denn sein Blick ruhte ruhig auf ihr, bevor er langsam nickte. „Natürlich liebe ich dich", raunte er heiser mit erstickter Stimme und betrachtete sie angespannt. „Es tut mir so leid, Holly... Ich..."

Sie schüttelte den Kopf und legte ihre Finger um sein Gesicht. Seine goldbraunen Augen füllten sich mit einem hoffnungsvollen, verzweifelten Leuchten, während er sie ansah.

„Keine Spielchen mehr?", fragte sie eindringlich. „Keine Unsicherheiten?"

„Ich verspreche es!", presste er rau hervor. Seine Augen zuckten unsicher über ihr Gesicht und huschten dann zwischen ihren Augen hin und her. „Ich liebe dich, Holly."

Ein brennendes Feuer erfüllte plötzlich ihre Brust, während sie ihn ansah. Um sie herum versank alles. Die Lichter des Diners, die wenigen vorbeiziehenden Autos, die Leute, Michael... bis sie nur noch in seinen Augen zu existieren schien. „Ich liebe dich auch", gab sie leise zurück. Für einen Moment verkrampfte sich etwas in ihrem Inneren. Dieser kleine, unsichere Teil von ihr, der jetzt ein höhnisches Gelächter von ihm erwartete.

Doch Lukan begann nur zögernd zu lächeln. Es begann in seinen Augen, brachte sie zum Leuchten und breitete sich langsam über seine Züge aus, bis er sie anstrahlte. Sie ließ sich von diesem Strahlen erwärmen, bis ihre ganze Seele zu schmelzen drohte. Ihre Knie wurden weich wie schlaffe Nudeln und sie sank an ihn. Er zog sie mühelos an seine Brust, presste sie an ihn und umarmte sie so fest, dass ihre Knochen gebrochen wären, wäre sie nun kein Vampir.

Er drückte sein Gesicht an ihren Hals, während sie die Arme um seinen Nacken schlang und tief seinen Duft einsaugte. Der Duft von Schnee und Äpfeln. Von ihm. Sie atmete tief ein und schloss die Augen. Er würde sie in den Wahnsinn treiben, würde sie immer wieder verrückt machen mit seinen Spielchen, doch diese innerliche Ruhe, diese Gewissheit, dass er sie wirklich liebte, würde er ihr nie wieder nehmen können. Diese Zeiten waren vorbei.

Er strich langsam über ihren Rücken und rückte sie leicht zurecht, bis sie an ihren gerundeten Bauch seine Erektion fühlte. Seine Berührungen wurden gezielter, strichen über ihren unteren Rücken bis zu ihrem Arsch. Seine rauen Hände umfassten die beiden Backen und zogen sie näher an seine Härte. Sie gab einen erstickten Laut von sich und räkelte sich dann schnurrend an ihm. „Lass uns..."

„Ja", murmelte er leise und lachte heiser.

*

Naheela sank mit einem anmutigen Gleiten auf den Balkon des Apartments im siebzehnten Stock eines New Yorker Hochhauses und trat einen Schritt zur Seite. Mit weit weniger Anmut und noch viel weniger Gleiten fiel Grace aus ihren Armen auf die breite Außenterrasse und sackte auf ihre Knie. Irgendwo in ihrem Hinterkopf war zwar die Gewissheit verankert, dass sie früher ein Mensch gewesen war und deshalb ihr Dasein als Engel neu für ihren Körper war, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie einen frustrierten Fluch ausstieß, als ihre Knie aufprallten.

„Du lernst das schon noch, Grace", lächelte Naheela gutmütig und reichte ihr eine Hand. „Komm'. Die anderen warten schon auf uns."

Grace griff nach ihrer Hand, stand auf und klopfte sich die viel zu weite Hose ab. „Können wir kurz eine Pause einlegen?" Sie sah auf. „Ich brauche einfach etwas... Zeit."

Der Engel runzelte für einen Augenblick die Stirn und der Ausdruck in ihren Augen wurde kalt. Doch dann verschwand der Blick und sie nickte lächelnd. „Natürlich. Wofür brauchst du denn Zeit?" Ihre Stimme war ein Tanz aus Eis und Musik.

Grace verkniff es sich mit den Augen zu rollen. Stattdessen warf sie einen kurzen Blick über das Geländer des Balkons nach unten und erschauderte. Es war unglaublich, dass sie in dieser Höhe gerade noch geflogen war. Ohne eine zentnerschwere Blechplatte eines Flugszeugs zwischen sich und der Luft.

Ihre Wangen fühlten sich vom Flugwind taub an und auch ihre Finger ließen sich nur schwer bewegen. Doch ihre Haut spannte nur. Sie schmerzte nicht, obwohl es eigentlich bei der Kälte des Frühlings so sein müsste.

Ihr Blick glitt über das düstere Durcheinander der Straßen unter ihr. Obwohl sie nie unter Höhenangst gelitten hatte, sperrte sich dennoch instinktiv etwas in ihr, als sie mit dem Gedanken spielte, jetzt zu springen und aus eigener Kraft zu fliegen. Allein der Gedanke war einfach furchteinflößend, auch wenn sie sich kaum drei Stunden zuvor einfach vom Dach des Polizeireviers geschwungen hatte. Doch da war sie noch irgendwie paralysiert und verwirrt von der Vision gewesen. In diesem Traum war ihr alles vollkommen normal erschienen. Die Tatsache, dass es Engel gab. Dass sie ein Engel und Teil des Feenvolks war. Dass sie fliegen und ihre Flügel jederzeit verschwinden lassen konnte. Dass sie, Grace, von ihrer Mutter nicht gewollt worden war und doch geboren wurde, um sich in einen Krieg einzumischen, von dem sie keine Ahnung hatte.

Offensichtlich stand sie auf der Seite ihrer Art, der Feenwesen, auch wenn sie die Exemplare ihrer Gattung, die sie bisher kennengelernt hatte, nicht wirklich leiden konnte.

Ihre Mutter und ihr Versuch, sie abzutreiben, war wie ein heißer, brennender Stachel tief in ihrer Brust, der wohl von nun an immer schmerzen würde. Ihr Großvater hatte ebenso ihren Tod gewollt, weil sie unreines Menschenblut in sich trug. Allerdings glaubte sie den Worten von Naheela, dass er sie in Ruhe lassen würde, weil sie nun ein ganzer Engel war. Und Naheela selbst wirkte manchmal... seltsam. Als sei ihre nette, sympathische Art nur eine Fassade. Ab und zu blitzte in ihren Augen eine so abgestumpfte Kälte auf, die sie unwillkürlich erschaudern ließ. Doch sie war nicht verschlagen und hinterhältig. Wenn sie vorhatte, Grace etwas anzutun, würde sie es ihr ins Gesicht sagen und keine heimlichen Pläne machen. Wenn sie etwas nervte oder sie etwas nicht verstand, würde sie es mit brutaler Ehrlichkeit zugeben oder Grace zumindest sehen lassen, wie sich ihre Augen verengten und mit Kälte füllten. Sie war durchschaubar. Und gefährlich, daran gab es keinen Zweifel.

Immer noch fragte Grace sich, weshalb sie überhaupt mitgegangen war. - Oder sich hatte tragen lassen. Ihr lag nichts an einem Kampf und noch weniger hatte sie vor selbst ein Schwert zu schwingen. Dies lag alles fern ihrer Vorstellungskraft, auch wenn es durchaus sein konnte, dass sie als Mensch keine Scheu davor gehabt hatte, eine Waffe zu ziehen. Nun, es wäre immerhin möglich. Doch daran erinnerte sie sich eben nicht.

Und darum ging es ihr. Ein innerliches Sehnen nach der Wahrheit und nach einem Platz, an den sie gehörte, schien gerade ihr ganzes Handeln zu steuern. Auch wenn sie nicht wusste, was sie von den Engeln erwarten sollte, war sie trotzdem neugierig.

Ihre Eltern waren gestorben und aus den Andeutungen des Polizeichefs hatte Grace entnehmen können, dass sie eine entscheidende Rolle bei ihrem Tod hatte. Zwar war der Beamte sehr kryptisch geblieben, als wolle er sie nur dazu bringen, selbst die Puzzelteile zusammenzufügen und sich zu erinnern, doch das hatte nicht funktioniert.

Irgendjemand würde also ihre Fragen beantworten müssen.

Sie straffte sich leicht und trat vom Geländer des Balkons zurück. Naheela schien auf diese Regung gewartet zu haben, denn sie lächelte Grace sofort anmutig an.

„Dies ist unser Nest", erklärte sie und zeigte zur Glastür des Apartments. Bevor Grace zu der Bezeichnung etwas sagen konnte, was sehr unschmeichelhaft einen Vergleich zu Vögeln zog, fuhr Naheela fort: „Unsere Zufluchtsstätte vor den Dämonen. Wir müssen oft den Platz wechseln, denn sobald ein Gerücht über unseren Aufenthaltsort durchsickert, tauchen die Dämonen auf. Besonders die Jüngeren unter ihnen scheinen es als eine Art Sport zu sehen, wenn sie uns angreifen und töten."

Grace' Augenbrauen zogen sich zusammen. Auch wenn Naheela mit ihrem Tonfall offensichtlich darauf abgezielt hatte, Grace' Mitgefühl zu erregen, war sie gescheitert. Eine seltsam unausgesprochene Freude schwang bei diesen Worten mit, als giere sie nach jedem Auftauchen der Dämonen. Als sehne sie sich nach einem Kampf; und sie machte keinen Hehl daraus. „Ah", machte sie deshalb tonlos und beobachtete den Engel aus dem Augenwinkel. Naheela versteckte nicht, was sie wollte. Ganz sicher nicht. Aber sie war sich im Klaren darüber, dass Grace mit dem Leben als Engel und ihren Absichten nicht vertraut war. Deshalb ließ sie die Bombe nicht sofort platzen. Doch der Aufprall würde irgendwann kommen.

„Beim letzten Angriff sind drei von uns gestorben, während die anderen geflohen sind." Naheela warf ihr einen abschätzenden Blick zu. „Sie waren noch Kinder."

Obwohl sie bisher noch keinen Bezug zu den Feenwesen hatte, zog sich Grace' Herz bedauernd zusammen. „Was ist passiert?", fragte sie plötzlich heiser und betrachtete wieder die Schlucht zwischen den Hochhäusern. „Wie konnten die Dämonen von dem... Nest erfahren?"

Naheela wandte den Blick leicht ab. Nicht, um sich zu verstecken, sondern um nachzudenken. Trotzdem sah Grace im Augenwinkel, wie ihre Augen vor grausamer Befriedigung aufleuchteten. Doch dann wurde ihr Blick trüb und ihre Mundwinkel verzogen sich schmerzlich. „Die Dämonen sind auf uns aufmerksam geworden, weil...", sie gab ein genervtes Seufzen von sich, „...weil sich einige von uns nicht im Griff hatten. Sie haben zu viele Menschen in der näheren Umgebung umgebracht."

Grace starrte sie entsetzt an. Bei den Worten zu viele war ein leises, unausgesprochenes nicht genug mitgeschwungen. „Weshalb", Grace' Stimme war trotz ihres Entsetzen seltsam fest, „tötet ihr Menschen?"

Naheela warf ihr einen faszinierten Blick zu, als habe sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht geglaubt, dass Grace so eine lächerliche Frage stellen konnte. Doch dieses Mal antwortete sie wie immer brutal ehrlich: „Weil wir es können."

So schlicht und so... grauenvoll. Feenwesen hatten keinen Grund irgendetwas zu töten, doch sie taten es trotzdem. Und mit einem Mal hatte Grace kein Bedürfnis mehr, mit ihr allein auf dem Balkon zu stehen. Angst krallte ihre Eingeweide zusammen und sie rückte unmerklich ein kleines Stück von ihr ab. „Gehen wir rein?", fragte sie gepresst und zeigte mit dem Daumen auf die Glastür.

„Gern", erklärte Naheela warm und strahlte sie freudig an. „Es sind schon alle Feenwesen versammelt für deine Ankunft."

„Oh", meinte Grace matt. „Schön."

*

Das Apartment war nichts weiter als ein langgezogener Raum, der das ganze Stockwerk zu umfassen schien. Alle Seiten waren mit deckenhohen Fenstern geschmückt und in der hintersten Ecke gab es eine einzelne Tür, die wohl zur Treppe und den Aufzügen führte. Möbel gab es nicht. Nur lagen auf den dicken Teppichen ein paar Matratzen, auf denen gut fünf Duzend Frauen, Kinder und Männer hockten und sie erwartungsvoll ansahen.

Grace schluckte langsam. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, doch dieser Haufen an verunsicherten, verschreckten Wesen war einfach nur traurig. Auf Anhieb erkannte sie gut dreißig von ihnen als Engel, obwohl sie alle ihre Flügel eingezogen hatten, doch der Rest war nur eine klägliche Ansammlung von Flüchtlingen verschiedener Rassen. Ein paar von ihnen saßen in der linken Ecke, umgeben von gepflegten Blumenkästen aus denen verschiedene Pflanzen wuchsen, die sich zum Teil wie ein Teppich um die Wesen legten. In einer anderen Ecke hatten sich Wesen versammelt, die vor sich hinsummten. Auch einige Einzelwesen verhielten sich seltsam, doch es war diese Einsamkeit und Verzweiflung, die in Grace die Gewissheit wachsen ließ, dass sie die letzten Exemplare ihrer Rasse waren.

Aus dem Blumenbett erhob sich geschmeidig eine junge Frau, deren Haut auf eine überraschend gesunde Art grünlich leuchtete. „Wir haben auf dich gewartet", lächelte sie unsicher und machte eine einladende Handbewegung.

Aus der Ecke ihres Großvaters ertönte ein herablassendes Schnauben. „Ihr verhaltet euch, als sei sie eine Art Heiland."

Dem musste Grace zustimmen, auch wenn sie den geringschätzigen Tonfall nicht mochte. Langsam betrachtete sie die einzelnen Gesichter der Wesen. Sie waren alle unglaublich schön, von einer ätherischen Übermenschlichkeit, die Grace sofort verzauberte. Doch es war nicht diese Perfektion, die sie wirklich in den Bann schlug, sondern diese verzweifelte Hoffnung in ihren Augen, während sie Grace ansahen.

„Hi", murmelte sie mit einem angespannten Lächeln. „Weshalb habt ihr auf mich... gewartet?", fuhr sie aus einem Impuls heraus fort.

„Du wirst uns anführen. Mora hat dir die Gabe gegeben", sagte ihr Großvater herablassend, aber mit einem schneidenden Ernst in der Stimme. „Du wirst jetzt entscheiden, wann wir zuschlagen."

Grace blinzelte. „Zuschlagen?"

„Der Krieg", erklärte er ungeduldig und seufzte, als spräche er mit einem minderbemittelten Affen. „Der Krieg zwischen den Dämonen und den Feenwesen." Er wies bei dem letzten Wort auf die kleine Ansammlung von Flüchtlingen. „Wir warten auf dein Zeichen und dann schlagen wir zu."

Viele der Wesen wandten gequält den Blick ab, doch alle schienen den Sinn seiner Worte hinzunehmen.

„Ich will keinen Krieg", sagte Grace langsam, jedes Wort betonend. „Und ihr seht nicht so aus, als könntet ihr es mit einer Armee von Dämonen aufnehmen."

Die Engel versteiften sich und warfen sich stumme Blicke zu.

Grace hatte ihren Stolz verletzt, das war ihr klar, doch sie würde nicht zurückrudern. Vor ihrer Geburt waren es noch hundert Engel gewesen, das wusste sie durch die Vision. Und diese hundert hatten nichts ausrichten können. Wie sollten es dann nur dreißig schaffen?

Ein verwirrendes Selbstbewusstsein setzte sich in ihrer Brust fest und ließ sie den Kopf stolz heben. Sie hatte Recht und sie würde nicht von diesem Standpunkt abweichen. Es würde keinen Krieg geben. Erst recht nicht auf ihr Zeichen hin. Die Selbstverständlichkeit mit der sie dieses Gefühl von Autorität und Selbstsicherheit hinnahm, hätte sie erschrecken müssen, doch die erleichterten Blicke der anderen Wesen bestätigte sie.

Sie würden auf sie hören. Und das nur, weil Grace existierte. Es spielte keine Rolle, ob sie in ihrem Leben jemals ein Schwert in der Hand gehabt oder jemals einen Dämon den Kopf abgeschlagen hatte, wie es offensichtlich viele der anwesenden Engel schon taten. Es machte auch keinen Unterschied, dass sie bisher niemals einen der Ihren beschützte. Sie war das Oberhaupt dieser Gruppe und niemand würde sie infrage stellen.

Weshalb diese Erkenntnis sie nicht mit Panik erfüllte, war ihr nicht klar. Es war fast, als würde sie ihr Lieblingskleid anziehen, als sie diese Verantwortung annahm. Die Macht glitt über sie wie eine zweite Haut.

Selbst ihr Großvater war verstummt, auch wenn es ihn offensichtlich reizte, den Mund zu öffnen und ihr Beleidigungen an den Kopf zu werfen.

„Was sollen wir dann tun?", fragte Naheela gereizt und funkelte sie an. „Wir können doch nicht hier sitzen bleiben und auf den nächsten Angriff der Dämonen warten, der uns schlussendlich vernichtet! Wir müssen unser Recht in Anspruch nehmen und für unsere Freiheit kämpfen!"

Grace Lider flatterten, als Naheela geendet hatte. Sie wusste nicht, ob es ihre Worte waren, die eine Vision auslösten oder ob es einfach an der Zeit war, ein neues Puzzelteil zu sehen. Sie hatte kaum genug Zeit, sich auf eine der Matratzen sinken zu lassen, als auch schon das Prasseln von einzelnen Bildern begann.

*

Ein Urwald erstreckte sich vor ihr, doch Grace sah kaum mehr, als eine dunkle Gestalt, die sich über ein Ufer beugte und einen leblosen, kleinen, aschfahlen Jungen aus dem Wasser zog. Die dunkle Gestalt beugte sich über ihn und presste ihre Hände auf seine Brust. Einen Moment passierte gar nichts, dann hustete der Junge und rollte sich zur Seite. Aus seinem Mund erbrach sich ein Schwall Wasser, doch die dunkle Gestalt wartete nicht ab, ob er zu sich kam, sondern verschwand.

*

„Du bist für Höheres geschaffen, Damon", sagte eine leise Stimme, die sich seltsam überlappte. Grace brauchte nicht lange, um die Stimmen von Mora zu erkennen, dieser seltsamen Frau aus ihrer ersten Vision.

Sie befanden sich in einer Art Turmzimmer, wenn Grace richtig sah. Grob gehauene Steine formten die Wände des Zimmers, in dessen Mitte ein Mann lag. Er sah gut aus. Erschreckend gut, selbst wenn er nur ein Mensch war. Eine blutende Wunde an seinem Hals zeugte von einem Angriff eines Vampirs, doch in den Augen von Damon sah Grace das Aufflackern von Leben. Von dem Leben als Untoter. Seine Verwandlung hatte schon begonnen.

Erst jetzt bemerkte Grace einen Staubfleck neben dem Körper von Damon. Offensichtlich war sein Erschaffer kurz nach seiner Verwandlung getötet worden.

Mora glitt gekleidet in einer dunklen Toga, die ihr Gesicht bedeckte, neben ihn und setzte sich. „Du bist für viel Größeres geschaffen." Sie strich ihm sanft über das Gesicht und lächelte, als sein unsteter Blick über sie glitt. „Er konnte dir keinen Bluteid abnehmen", fuhr Mora leise fort. „Er konnte dich nicht in die Versklavung zwingen, bevor er starb."

Damons Lippen formten sich zu flüsternden Worten. „Bl-blaue Auge-gen." Mehr sagte er nicht, während er Mora betrachtete.

„Du bist vollkommen frei, Damon. Ungebunden von all den Ketten deiner Rasse. Du kannst dich über sie erheben." Moras Worte waren leise, aber eindringlich. „Ich habe gesehen, wie gerissen und machthungrig du bist, Damon. Es hat dir niemals gereicht über dieses Land zu herrschen. Du wolltest immer mehr. Vielleicht ist er deshalb auf dich aufmerksam geworden", Mora nickte zu dem Staubfleck, „Machtgier ist ebenso anziehend wie Schönheit. Ich musste gar nicht viel tun, damit er dich verwandelt."

Sie lächelte gedankenverloren. „Bleib dir treu. Lass dir einfach Zeit mit deinen Plänen. Warte ab, bis der richtige Moment da ist." Sie beugte sich zu ihm, bis zu seinem Ohr. Fast konnte Grace sie nicht mehr verstehen, so leise sprach sie plötzlich. „Werde ihr König. Verändere die Welt nach deinem Willen. Keiner kann sich in deinen Weg stellen, wenn du geschickt mit den Gaben umgehst, die du finden wirst in deinem Leben. Ich weiß es. Ich habe es gesehen", flüsterte sie.