Swipe, um zu sehen, wer jetzt online ist!

Dunkler Abgrund Ch. 18

ÖFFENTLICHE BETA

Hinweis: Sie können die Schriftgröße und das Schriftbild ändern und den Dunkelmodus aktivieren, indem Sie im Story-Infofeld auf die Registerkarte "A" klicken.

Sie können während unseres laufenden öffentlichen Betatests vorübergehend zu einem Classic Literotica® Erlebnis zurückkehren. Bitte erwägen Sie, Feedback zu Problemen zu hinterlassen oder Verbesserungsvorschläge zu machen.

Klicke hier

„Blau", sagte Damon wieder. Er klang halb hypnotisiert, halb verzweifelt.

„Du hast keinen Erschaffer. Du hast nie einen Bluteid auf deine Rasse geschworen", wisperte Mora. „Das habe ich für dich getan. Den Rest musst du allein schaffen." Sie zögerte eine Weile und schloss mit einer Bewegung ihrer Finger die Augen von Damon. „Du wirst dich nicht an mich erinnern."

Damon erschlaffte sofort.

Mora betrachtete ihn noch einen Moment und lächelte zufrieden. „Natürlich wirst du scheitern und getötet werden, aber um dich ging es niemals, Damon. Es ging niemals um dich."

*

Mora drehte leicht den Kopf und zeigte ihr schlaffes, altes Profil, während Grace sich im Raum umsah. Die Küche war zum größten Teil aus Holz gefertigt und man sah in den kleinsten Details die Liebe beim Bau. Die sanft abgeschliffenen und geölten Fensterläden. Die hübschen, detaillierten Gardinen. Selbst das Gewürzbord hatte filigrane Einmeißelungen, die mit geschwungenen Buchstaben zeigten, was sich in den hölzernen Gewürzmühlen befand.

Grace beobachtete mit einer überraschenden Entrücktheit, wie ein kleines, dünnes Mädchen ein Kindermesser in den Rückenteil eines Stuhls bohrte. Der hölzerne Griff fügte sich wie ein Puzzleteil in das Holz der Lehne und blieb einen Moment stecken. Doch die Kraft des Mädchens war bei weitem nicht genug, um das Messer an der Stelle zu halten.

Während sich das Kind bereits abwandte und mit einem schlafwandlerischem Ausdruck in den Augen zum Schwank wankte, fiel das Messer aus dem Loch. Mora trat vor und packte das plötzlich weißlich leuchtende Messer, um es mit einer harten Bewegung spitz in die Lehne zu rammen.

Grace' Augen weiteten sich entsetzt, als ihre eisblonde Mutter von der Spüle der Küche zurücktrat und sich blind für das Messer vor den Stuhl stellte. Sie raffte leicht ihre Röche, klemmte eine Kumme zwischen ihre Knie und ließ sich fallen. Sie blinzelte, als sich das Messer wie Butter zwischen ihre Rippen rammte und vorn wieder austrat. Der Schrei eines kleinen Mädchens gellte durch den Raum.

Ein wissender Ausdruck tauchte auf dem Gesicht ihrer Mutter auf, während sie sich über den Kopf des kleinen Mädchens im Raum umsah und Mora erblickte.

Moras Lippen formten stumm einen Satz: „Dein Vater sucht dich."

Ihre Mom schloss einen Moment die Augen und nickte dann verstehend, bevor sie die Arme nach dem kleinen Mädchen ausbreitete. „Ist schon gut, Gracie", sagte sie laut und schloss das Mädchen in die Arme. Vorsichtig küsste sie ihren Scheitel und hielt ihre Tochter davon ab, das weißlich glänzende Messer zu berühren, das die Kleine panisch aus ihrer Brust reißen wollte. Sie hob das Mädchen auf ihren Schoß und ächzte leise vor Schmerz. „Ist schon gut, Grace. Es ist an der Zeit, dass ich dich mit Daddy allein lasse." Sie strich ihr vorsichtig über das Haar und hob ihr kleines Gesichtchen an. „Gott wollte es so. Ich gehe jetzt zu den Engeln, verstehst du, mein Liebling? Es ist alles in Ordnung, mein Schatz. Du hast keine Schuld. Pass' gut auf deinen Daddy auf, ja? Er braucht dich jetzt." Sie lächelte mit einem Ausdruck tiefer Liebe auf ihre Tochter herab. „Es ist alles gut..." Langsam verschwammen ihre Worte, während ihr Kind aufhörte zu schreien und nur noch wimmerte. „Oh, mein Schatz. Mein kleiner Schatz. Sag deinem Daddy, dass Gott das so gewollt hat und dass ich jetzt bei den Engeln auf ihn warte. Er wird dich verstehen." Ihre Tochter nickte ernsthaft unter tränengefülltem Blick. „Ich liebe dich."

Murmelnd wiederholte ihre Mutter immer wieder die Worte, bis sie schließlich mit einem Seufzen verstummte. Das weißliche Glühen der Klinge verebbte im selben Augenblick.

*

Ein junger, dunkelhaariger Vampir saß plötzlich neben Grace im Auto. Nein, falsch. Grace saß plötzlich neben ihm im Auto. Er fuhr schneller, als erlaubt war, aber nicht halsbrecherisch.

Sein Blick ruhte ruhig auf der Straße, deshalb hatte Grace einen Moment Zeit von der Seite seine karamellbraunen Augen zu betrachten. In ihnen lag eine unendliche Einsamkeit. Ihr Herz zog sich unwillkürlich schmerzhaft zusammen, als sie das sah. So einsam sollte niemand sein. Das hatte niemand verdient; nicht einmal dieser Vampir, dieser Dämon.

Doch nicht nur Einsamkeit lag in den Tiefen, sondern ein Hauch von Resignation, kalter Wut und Verzweiflung. Sein Blick zuckte zum Spiegel zwischen ihnen und für einen kurzen Augenblick sah sie auch eine seltsame Gehetztheit. Er wurde verfolgt, eindeutig. Von einem Feind, gegen den nicht einmal er, als Dämon, eine Chance hatte.

Grace versuchte ihn zu berühren, um ihn irgendwie zu beruhigen, doch ihre Hand glitt einfach durch seinen Körper. Sie zuckte zurück und runzelte die Stirn. Aus irgendeinem Grund war es ihr nicht möglich einzugreifen. Vielleicht, weil es die Vergangenheit war und es etwas in ihrem Leben verändern würde, wenn sie versuchte etwas zu tun. Doch eine verwirrende Gewissheit setzte sich in ihr fest, dass sie es eigentlich konnte: Die Vergangenheit verändern. Nur nicht diese. Warum?

Ein Knacken ließ sie herumfahren und sie starrte auf die Armatur des Autos. Eine geisterhafte Hand erschien über dem eingebauten Navigationssystem und malte einige Symbole in die Luft. Das Knacken verstummte.

Was zur Hölle...?

„Nächste Ausfahrt links."

Grace zuckte wieder zusammen, als die blecherne Stimme aus dem Navigationssystem ertönte. Der Vampir warf einen kurzen Blick auf das Display, dann runzelte er die Stirn. Er löste eine Hand von dem Lenkrad und drückte einige Knöpfe. Grace sah sein Ziel: New York, Four-Seasons-Hotel.

Ihr Blick glitt durch den Innenraum des Wagens. Nun, das Auto war unauffällig, aber er hatte offensichtlich einiges an Geld, wenn er sich so ein Hotel leisten konnte.

Obwohl die Stimme zwei Mal verlangte, er solle links abbiegen, fuhr er weiter. Zwei Mal erklärte die Stimme noch, dass er umkehren sollte, doch der Vampir blieb stur.

Ein geisterhaftes, dreistimmiges Seufzen von Mora erklang, als der Vampir schließlich das Navigationssystem ausschaltete. Ihre Hand legte sich auf das Radio und drehte es ein kleines Stückchen auf. Ein uralter Song, einer aus den zwanziger Jahren, erklang so leise, dass selbst Grace ihn kaum hörte. So leise, als sei das Radio die ganze Zeit angewesen.

Der Vampir reagierte darauf und stellte das Radio laut. Für einige Minuten wich die Einsamkeit aus seinen Augen und füllte sich mit dem Aufflackern von Erinnerungen. Schließlich endete der Song und Grace hüpfte fast von ihrem Sitz, als Moras Stimme aus dem Radio erklang. Doch dieses Mal ohne diese gruselige Überlappung von drei Stimmen.

„Und jetzt...", ihre Stimme war rauchig und angenehm, wie man es sich von einer Radiomoderatorin vorstellte, „... What a wonderfull world von Louis Armstrong. Die Sonne geht bald auf, deshalb beginnen wir den Tag mit einer Prise Optimismus." Ihre Stimme lächelte. „Und einem guten Kaffee bei Matthew's Diner. Ich weiß, ich darf keine Schleichwerbung machen und mein Chef - Hi Steven! - sieht mich auch gereizt an, aber der hat auch keinen wunderbaren Kaffee in der Hand. - Gott, ich liebe dich, Holly, weil du deinen Laden so früh aufmachst. Für alle Frühaufsteher da draußen: Ecke Samsons- und Milbourstreet lieg der wohl beste Diner der ganzen Umgebung! Schaut einfach rein. Der Kaffee von Holly rettet mir jeden Tag das Le...!" Die ersten Töne von Louis Armstrong erklangen, als habe der Chef seiner Moderatorin tatsächlich das Wort abgeschnitten.

Der Vampir lachte ebenfalls und schaltete sein Navigationssystem wieder an. Dieses Mal lautete sein Ziel anders.

*

Grace blinzelte. Eine leere Straße, nur erleuchtet vom Licht einiger Straßenlaternen, erstreckte sich vor ihr. Irritiert sah sie sich nach Mora um und tatsächlich fand sie die alternde Frau nur ein paar Meter von ihr entfernt in einer kleinen Gasse stehen. Sie schien auf etwas zu warten, obwohl die Straße vollkommen leer war.

Es dauerte eine Weile, bis sich schließlich etwas regte. Die Tür einer kleinen, halb verborgenen Bar in der Gasse öffnete sich und ein Pärchen trat heraus. Wild presste der Mann sie gegen eine Wand und fummelte mit einer Hand nach dem Verschluss seiner Jeans.

„Blas mich", forderte er heiser gegen ihren Hals. „Ich will deinen heißen, nassen Mund an meinem Schwanz spüren."

Die Frau lächelte gierig und ging leicht in die Knie, bevor Mora an sie herantrat. Mit einer sanften Berührung der beiden Menschen erlosch jede Lust in ihren Augen und steif richtete sich die Frau wieder auf. Sie blieben reglos stehen, während Mora in Grace' Richtung blickte. Doch sie sah sie nicht, sondern betrachtete das Ende der Gasse.

Grace wandte sich um und sah, wie eine schwarzhaarige Frau die Gasse betrat, das Paar erblickte und hungrig ihre Lippen beleckte. Im selben Moment bewegten sich die beiden Menschen und fassten sich unschuldig an den Händen, ohne die schwarzhaarige Vampirin zu beachten. Sanft hob der Mann seine Hand und strich über das Gesicht der Frau in seinen Armen.

„Ich will eine Familie mit dir gründen", sagte er, doch Grace sah, wie Mora im Hintergrund die Lippen zu diesen Worten formte. „Wir werden eine glückliche Familie. Wie die Fosters am Ortsrand in dem kleinen Häuschen. Acht, neun... elf Kinder will ich mit dir."

„Ja", sagte die Frau entzückt, doch es klang aufgesetzt, während Moras Lippen lautlos die Worte formten. „Eine glückliche, große Familie, der niemand etwas anhaben kann. Die niemand verletzten kann. Unantastbar. Wir werden sie alle so lieben. Wie diese Fosters. Sie sind eine ideale Familie. So wollen wir auch sein."

Die Vampirin legte leicht den Kopf schief. Sie schien keine Probleme mit dieser absolut lächerlichen Unterhaltung zu haben, doch irgendetwas Irrwitziges leuchtete in ihren Augen auf. Sie verschwand und Mora trat aus der Gasse heraus.

„Lutsch ihn", forderte der Mann im selben Moment, als sei nie etwas gewesen. „Lutsch ihn. Saug ihn tief in deinen Mund."

Die Frau kicherte und glitt auf ihre Knie.

*

Grace erstarrte, als sie sich plötzlich sich selbst gegenüber sah. Ihr anderes Ich saß an einem Schreibtisch, den Kopf müde über einen Haufen Papiere gebeugt, die sie langsam durchblätterte und auf einigen ein Kürzel hinterließ.

Das Licht, das durch die Lamellen der Rollos drang, zeigte ihr, dass es kaum Mittag sein konnte, trotzdem wurde sie den Eindruck nicht los, dass die andere Grace, die menschliche Grace schon viele, viele Stunden in diesem Büro saß.

„Post."

Das Wort ließ Grace herumfahren. In der Tür zum Büro stand ein junger Mann mit einem Haufen Papiere in der Hand.

„Dr. Newlands?", fragte er, als die menschliche Grace nicht reagierte.

Grace erstarrte. Sie hatte einen Doktortitel? Ihr Blick glitt über die kahlen Wände der Praxis. Nur ein paar Blumen- und Landschaftsbilder hingen an den sonst klinisch reinen Wänden. Über dem Kopf der menschlichen Grace befand sich zwischen den Fensterrahmen allerdings deutlich sichtbar das Diplom. Unfassbar!

Die menschliche Grace hob den Kopf. „Verzeihen Sie. Viel Papierkram." Sie zeigte auf das Chaos auf ihrem Schreibtisch. „Ich war in Gedanken." Sie lächelte warm. „Sind meine Flugtickets dabei, Howard?"

Der junge Mann nickte. „Sie gehen also wirklich weg? Nach Afrika?"

Grace nickte langsam. „Ich möchte einfach etwas Gutes tun. Mir kommt meine Arbeit so... belanglos vor."

„Tittendoktor ist doch ein guter Beruf", sagte der junge Mann. „Ich bin nur Postbote."

„Ich wollte damit nicht sagen... Es tut mir... Legen Sie die Briefe einfach in mein Fach", schloss sie seufzend.

Der junge Mann trat in den Raum und legte die Briefe ab, bevor er durch die Tür wieder verschwand. Während sich Grace wieder über ihre Papiere beugte, tauchte Mora aus dem Nichts auf. Sie hielt etwas in der Hand und ließ es zwischen die Papiere gleiten, bevor sie ebenso spurlos wieder verschwand.

Grace trat langsam näher an den Schreibtisch und zog mit spitzen Fingern das Ding, was Mora zwischen die Briefe gesteckt hatte, heraus. Es war eine Postkarte mit einer schönen Landschaft von Dimesville drauf. „Viel Glück in Afrika!" stand auf der Rückseite und dann dreizehn schwungvolle Unterschriften. Sie endeten alle auf den Namen „Fosters".

Als sich die menschliche Grace nach den Briefen reckte, schob Grace die Karte schnell zurück. Ihr anderes Ich ging die Briefe langsam durch und nahm einen von der Fluggesellschaft und die Karte heraus. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie die Karte las und dann langsam über den Brief mit den Flugtickets strich. Eine Weile verharrte sie so. Dann griff sie zu ihrem Telefon.

„Hi. Ja, Dr. Grace Newlands hier. Ich wollte nur wissen, ob ich es zeitlich einrichten kann, wenn ich vor meinem Abflug noch einen Abstecher zum Grab meiner Eltern mache und mich von einer befreundeten Familie verabschiede. Ich bräuchte nur zwei Tage früher frei. Maximal." Grace hörte einen Moment zu. „Verschieben sie meine Termine einfach nach vorn. Ja. Ja. Okay. Nein. Dienstagnacht ist OP-Raum neun belegt. Hm-hm. Ja. Gut, danke Gabrielle."

*

Nur ein kleiner, gezischter Ausruf aus drei Stimmen in der Dunkelheit: „Erinnerst du dich nicht, Morgana? Du sollst dich doch um den ausgehungerten Alec kümmern. Gib ihm etwas zu trinken. Dieses Mädchen lebt doch noch. Nimm sie mit. Bring sie ihm."

„Ja", war die gemurmelte, müde Antwort aus dem Versteck der Vampirin.

*

„Gott!" Mit diesem Ausruf rollte sich Grace auf der Matratze zur Seite und verbarg ihr Gesicht zwischen den Händen. Um sie herum wurde es still, als die Feenwesen zurückwichen, um ihr etwas Zeit zu geben. Von Mora waren sie es wahrscheinlich bereits gewöhnt.

Ihre Schläfen pochten, während sie versuchte die Bilder von eben zu verarbeiten. Mora hatte in ihrem ewiglangen Leben bestimmte Dinge beeinflusst. Dinge aus der Vergangenheit, doch auch aus der Zukunft. Sie hatte längst nicht mehr gelebt, als Grace das Licht der Welt erblickte und trotzdem hatte sie es geschafft durch diese Zeitreisen, das Messer so zu platzieren, dass sich ihre Mutter damit umbrachte, als Grace schon fast alt genug für die Schule war. Doch warum? Warum hatte sie so viele Wesen und Menschen beeinflusst? Wie passte das alles zusammen?

Stöhnend massierte Grace ihre Nasenwurzel und presste die Augen zusammen. Einiges ergab einfach keinen Sinn. Der Junge im Urwald, den Mora gerettet hatte. Damon, der die Macht ergreifen sollte, aber scheitern würde. Morgana, die zu dieser Familie, diesen Fosters, geschickt wurde. - Kurz bevor oder nachdem Grace dort auftauchte. Dieser Vampir im Auto, der zu einem Diner geschickt wurde. All das ergab keinen Sinn.

Mora hatte Fäden gezogen und Puppen tanzen lasse, damit sich einige Wege schnitten, doch welche Wege das waren und vorhin sie führten, wusste Grace immer noch nicht. Und es half ihr auch nicht weiter. Das einzige, was sie zumindest zum Teil verstanden hatte, war der Tod ihrer Mutter. Sie hatte sterben müssen, damit ihr Großvater, Azaazareel, seine Tochter nicht finden konnte. Und somit Grace. Er hatte sie nicht umbringen dürfen, als sie noch ein Kind war. Grace hatte unbemerkt von ihm aufwachsen müssen. Doch warum hatte Mora dafür gesorgt, dass die kleine, menschliche Grace ein Trauma mit sich davon trug? Warum hatte sie es dann so aussehen lassen, als sei dieses kleine Kind die Mörderin an ihrer Mutter?

Ein dumpfer Schmerz breitete sich in ihrer Brust aus, als sie darüber nachdachte, was passiert wäre, wenn Grace tatsächlich ihre Mutter umgebracht hätte. Oder zumindest glaubte, dass sie es getan hatte. Was würde sie tun? Durchdrehen? War sie als Mensch der Typ für eine psychische Störung gewesen, die in Medikamententräumen und Psychiatrieaufenthalten gipfelten?

Sie versuchte sich in die Rolle hineinzuversetzen, die auf eine schmerzhafte Art sehr leicht anzuziehen war. Nein, sie wäre nicht im üblichen Sinne durchgedreht. Nicht wirklich. Aber sie hätte sich ewig schuldig gefühlt. Eine ganz unterschwellige, tiefe Schuld hätte ihr Leben beeinflusst. Sie hätte versucht Gutmachung zu leisten, ganz sicher. Und das Bild, das sie von der menschlichen Grace in der Klinik hatte, passte da hinein. Sie war eine Grace gewesen, die ihren Job zum Geldverdienen nutzte und härter arbeitete als alle anderen. Nur, um schnellstmöglich nach Afrika zu gehen und dort Gutes zu tun. Wie auch immer dieses Gute in ihren Augen aussah. Buße tun, um sich nicht mehr schuldig zu fühlen, das passte irgendwie.

Sie wimmerte leise, als sie an ihre Mutter dachte. Sie hatte sie vielleicht nicht am Anfang gewollt, doch sie hatte ohne einen Mucks von sich zu geben ihr Leben gelassen, um sie zu schützen. Sie hatte sie geliebt. Und das nicht, weil Grace irgendwie den Frieden bringen würde, wie Mora ihr prophezeit hatte, sondern weil sie ihre Tochter war. Mia hatte Grace geliebt, wie eine Mutter ein Kind nur lieben konnte.

Sie atmete zitternd durch und wischte sich über das Gesicht. Die Visionen waren geschickt worden. Mora hatte Teile ausgewählt und ihr geschickt, wurde ihr plötzlich klar. Wenn sie sich konzentrieren würde, würde sie ganz andere Bilder sehen. Bilder, die sie weiterbringen könnten, statt einem Wust an Unsinn. Doch Mora hatte damit etwas bezwecken wollen. Ihr einen Weg weisen, der sie selbst zu einem Schluss kommen ließ. Doch irgendwie befand sich Grace gerade noch auf dem Standstreifen und hatte einen Platten. Sie sah das Ende des Weges einfach nicht. Hatte Mora ihr den Weg bewusst verschlossen? Oder war Grace einfach nicht in der Lage ihre Gabe zu benutzen.

Um sie herum wurde es unruhig. Die Engel traten langsam näher und nicht wenige von ihnen ließen ihre Flügel erscheinen. Sie waren aufgeregt und nervös. Sie warteten nur darauf, dass Grace die Augen aufschlug und ihnen ihr weiteres Handeln erklärte. Doch was wusste Grace schon? Was sollte sie ihnen schon sagen?

Mora hatte sie schon nicht von ihrem Vorhaben, einen Krieg anzufangen und ihn bis zum bitteren, vorhersehbaren Ende durchzuführen, abhalten können. Wie sollte Grace es dann schaffen? Die Wesen, die keine Flügel trugen, waren offensichtlich kampfesmüde, doch auch sie würden für ihr lächerlich stolzes Volk sofort in den Krieg ziehen. Sahen sie denn nicht, wie aussichtslos das war?

Vor Grace' Geburt waren sie kaum hundert Engel und einige hundert andere Feenwesen gewesen und selbst diese Zahl hatte nichts ausrichten können. Jetzt versteckten sich hier nur noch dreißig Krieger und nur noch eine Handvoll Elfen, Nymphen und Feen. Es war aussichtslos, doch ihr Stolz würde es niemals zulassen, dass sie ihre Häupter vor den Dämonen beugten. Sie hielten sich für etwas Besseres. Für besser als jeder Dämon, jedes lebende Geschöpf, jeden Menschen. Sie glaubten, nur sie hätten das Recht die Erde zu bevölkern, als sei der Rest nur Abschaum.

Vielleicht lag es daran, dass Grace einmal ein Mensch gewesen war und sich irgendwo tief in ihrem Inneren noch daran erinnerte, wie es war Hunger und Angst zu haben oder zu frieren. Aber sie fühlte diese Selbstverständlichkeit ihrer Unantastbarkeit mit der diese Wesen lebten nicht. Sie hielten sich tatsächlich für unfehlbar. Nur ihrem Volk gegenüber waren sie nachsichtig und ließen emotionale Bindungen zu. Sie glaubten, der Mittelpunkt allen Geschehens zu sein, doch in Wahrheit waren sie so nebensächlich, dass viele junge Dämonen, wie der Vampir in dem Auto, von ihrer Existenz gar nichts ahnten.

Wie sollte Grace' ihre hoffnungsvollen Blicke ertragen, wenn sie doch nur in einen Kampf stürzen würden, den sie nur mit dem Tod bezahlen konnten? Ihnen blieb nichts mehr. Sie waren Bittsteller, vor einer Übermacht, die sie nicht einmal anerkannten.

Mora hatte alles versucht, wurde Grace bewusst. Selbst wenn es ihr gelingen würde, die Feenwesen davon zu überzeugen, dass sie um ihr Überleben betteln mussten, würden sie es nicht tun.

Diese Wesen waren stolz und sie liebten den Kampf. Freudig würden sie für ihre Freiheit und ihre Existenz in den Tod stürzen. Sie würden dabei sogar noch lachen. Doch niemals, niemals würden sie es zulassen, dass sie vor einem Dämon in die Knie gingen. Sie würden sich eher selbst richten. Wie sollte Grace es also schaffen, dass sie ihre Schwerter niederlegten und friedlich lebten, wenn sie nichts im Austausch anbieten würden?