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Der Olivenhain

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Ich habe mich so auf den ersten Teil des Briefes konzentriert, dass ich erst mit der Zeit realisiere, dass ich nicht nur ein kleines Andenken erben soll. Wenn ich den Brief jedoch richtig verstehe, soll ich das Landgut bekommen.

Was soll ich mit einem Weingut? Wie stellt er sich das vor?

Mir wird auch bewusst, dass ich ihn bereits als Vater betrachte. In seinen wenigen, wirklich sehr persönlichen Worten steckt viel mehr Wärme, als der Mann, den ich bisher für meinen Vater gehalten habe, mir je entgegen gebracht hat. Mein vermeintlicher Vater muss etwas gewusst haben. Nur so kann ich mir sein distanziertes Verhalten erklären. Ich habe als Kind sehr unter seiner Ablehnung gelitten. Ich habe versucht es damit zu erklären, dass es eben seine Art ist und, dass es nichts mit mir zu tun hat. Schließlich war sein Verhalten meiner Mutter gegenüber genauso wenig herzlicher. Seine vermeintliche Gefühlskälte, für die ich ihn ein Leben lang gehasst habe, erscheint nun jedoch in einem völlig anderen Licht.

Inzwischen ist es draußen dunkel geworden. Beim Lesen der letzten Zeilen hat das Tageslicht gerade so gereicht, um sie zu entziffern. Nun sitze ich definitiv im Dunkeln, kauere auf der Couch und grüble vor mich hin. Ich habe keine Ahnung, wie mein Leben weitergehen soll. Ich bin zwar kein Mensch, der sein Leben genau plant. Doch zumindest in groben Zügen hatte ich bisher immer eine Idee davon, wie es sich entwickeln sollte.

Wie jedes Mädchen habe ich davon geträumt, wegzugehen und irgendwo anders ganz neu anzufangen. Einen tollen Mann kennenzulernen, die Welt zu bereisen und mein Leben zu finden. Meine Ausbildung zur Friseurin habe ich nur auf Drängen meiner Mutter begonnen. Sie hat immer betont, wie wichtige es ist, einen Beruf zu haben. Wenig später ist sie an einem Herzinfarkt gestorben und hat mich von einem Moment auf den anderen zur Vollwaise gemacht.

Meine Ausbildung hat mir die Möglichkeit eröffnet, in eine betreute Wohngemeinschaft zu ziehen. Hätte ich die Lehre abgebrochen, wäre ich in ein Heim gesteckt worden. Das wollte ich absolut nicht. Also blieb mir nichts anderes übrig, als die Lehre fortzusetzen. Mein ganzes Leben lang stecke ich in einer Tretmühle fest.

Nun eröffnet sich plötzlich eine ganz neue Perspektive. Auch wenn ich keine Ahnung habe, worauf ich mich einlasse, es ist zumindest die Hoffnung auf einen Ausweg. Noch bin ich jung und kann mich auf ein Wagnis einlassen. Meine Mutter konnte oder wollte nicht über ihren Schatten springen und ausbrechen. Die Folge war, dass sie ein Leben lang unglücklich war. Diesen Fehler möchte ich nicht machen.

Als ich am Morgen erwache, bin ich wie gerädert. Ich habe schlecht und vor allem unruhig geschlafen. Im Traum spaziere ich mit meinem leiblichen Vater durch die Weinberge. Die warme, angenehme Sonne taucht die Reben in ein traumhaftes Licht. Dazwischen kommen immer wieder Episoden hoch, die ich mit dem Mann erlebt habe, von dem ich geglaubt hatte, dass er mein Vater sei. Ich träume davon, dass ich alt und grau noch immer im Friseursalon stehe, aber auch wie ich Hand in Hand verliebt mit einem Mann eine Straße entlangschlendere, die von Zypressen gesäumt wird.

Es ist noch früh am Morgen, doch allmählich dämmert es. Der Wecker würde erst in etwa einer Stunde klingeln. An jedem anderen Tag hätte ich mich umdrehen und noch eine Runde gepennt. Heute bin ich zu aufgewühlt. Ich schalte den Wecker aus, stehe auf und mache mir Kaffee. Schwarz und stark brauche ich ihn heute.

Während ich gedankenverloren an der Tasse schlürfe, schweifen meine Gedanken erneut ab. Was habe ich denn zu verlieren? So berauschend ist mein Leben auch wieder nicht. Also kann ich mir das Weingut wenigstens anschauen. Italien und vor allem die Toskana sollen wirklich schön sein. Zurückkommen kann ich schließlich immer noch, sollte es doch nicht klappen.

Ich gehe zeitig in den Laden, früher als sonst. Unruhe treibt mich an. Am Vormittag warte ich einen günstigen Zeitpunkt ab, um die Chefin zu fragen, ob ich die nächste Woche Urlaub nehmen kann. Von meinem Erbe erzähle ich ihr vorerst nichts. So gut befreundet sind wir auch wieder nicht. Sie jammert zwar, dass sie es alleine nicht schafft, sieht dann aber doch ein, dass ich irgendwann sowieso in Urlaub gehen muss. Warum also nicht nächste Woche, in der es aus heutiger Sicht ruhiger sein dürfte?

In der Mittagspause setze ich mich vor dem Geschäft auf eine der Bänke. Ich rufe den Notar an, um ihn von meinem Kommen in Kenntnis zu setzen. Ich suche die Visitenkarte und wähle die dort vermerkte Handynummer. Es läutet ein paar Mal, dann meldet er sich.

„Signorina Hertig, wie schön, Sie zu hören", begrüßt er mich. Seine Freude wirkt ehrlich.

„Ich habe den Brief gelesen und nachgedacht", erkläre ich ihm. Nach einer kurzen Pause spreche ich weiter. „Ich möchte zur Testamentseröffnung kommen. Ob ich das Erbe antreten kann oder will, das möchte ich im Augenblick noch offen lassen. Ich werde mir in Ruhe anschauen, was mich erwartet und erst dann entscheiden."

„Wann können Sie hier sein?"

„Ich werde am Sonntag mit dem Zug nach Italien fahren."

„Dann werde ich Sie am Bahnhof abholen und zum Weingut bringen."

„Das ist sehr nett von Ihnen. Finden Sie es sinnvoll, dass ich auf dem Weingut wohne?"

„Ihr Vater hat den Wunsch geäußert, dass dort das Testament verlesen wird. Ihre Geschwister wissen noch nicht, dass Sie darin bedacht wurden und vor allem nicht in welchem Ausmaß. Wenn Sie dort wohnen, können Sie sich in aller Ruhe vor der Bekanntgabe des großen Geheimnisses, schon mal ein Bild davon machen. Ich hoffe, das wird Ihnen die Entscheidung erleichtern. Ich würde vorschlagen, wir setzen die Testamentseröffnung auf Dienstag 14 Uhr fest", schlägt er vor.

„Wenn Sie meinen. Ich verlasse mich ganz auf Sie", antworte ich.

„Kommen Sie auf der Fahrt zurecht? Sie können vermutlich kein Wort Italienisch."

„Keine Sorge, meine Mutter hat mich dazu gedrängt einen Italienischkurs zu besuchen. Heute weiß ich warum sie dabei so hartnäckig war. Ich spreche zwar nicht perfekt die Sprache, doch es reicht, mich zurechtzufinden."

Wir vereinbaren noch einige Details zu meiner Fahrt und beenden das Gespräch. Das wäre also erledigt. Ich hoffe, dass ich keine Dummheit gemacht habe. Die Unsicherheit, die an mir nagt, ist mir neu. Ich bin eigentlich spontan und sehr entscheidungsfreudig. Doch in diesem Fall ist es anders.

Nach dem Telefonat bleibe ich noch etwas sitzen. Ich habe es tatsächlich getan! Ich werde nach Italien reisen und den Ort besuchen, an dem mein leiblicher Vater sich so wohlgefühlt hat. Ich bin immer stärker davon überzeugt, dass es auch der Ort war, an dem meine Mutter glücklich war. Sie hat ihr Leben lang feuchte Augen bekommen, wenn von Italien die Rede war. Auch die Tatsache, dass sie mich zum Italienischlernen geschickt hat, dürfte wohl in der weisen Voraussicht geschehen sein, ich könnte eines Tages doch noch meinen wirklichen Vater kennenlernen.

„Signorina Hertig! Willkommen in Italia", begrüßt mich der Notar.

„Guten Tag, Herr Notar", grüße ich förmlich.

Ich bin soeben am Bahnhof Siena angekommen. Ich musste nicht lange suchen und habe ihn bald entdeckt. Da Sonntag ist, sind nur wenige Leute unterwegs. Er hebt sich hier nicht so stark von den anderen ab, wie in Neukölln. Trotzdem ist er auch hier leicht auszumachen.

„Haben Sie nur diesen kleinen Koffer?", erkundigt er sich. Er ist sichtlich erstaunt.

„Ich werde nur ein paar Tage bleiben", erwidere ich. „Vorerst zumindest."

„Wie sie meinen."

Ein wissendes Lächeln umspielt seine Lippen. Er geht garantiert davon aus, dass ich am Ende doch hier bleibe. Ich weiß nicht, woher er diese Sicherheit nimmt. Ich habe alle meine Freunde in Berlin, mein ganzes Leben. Ich bin so gut wie nie aus der Stadt herausgekommen. Die Fahrt nach Italien kommt für mich einer Weltreise gleich.

Er nimmt den Koffer und ich folge ihm zum Ausgang. Wir sprechen kein Wort während wir zum Parkplatz vor dem Bahnhof gehen. Er holt den Schlüssel aus der Hosentasche, öffnet den Wagen und hält mir galant die Beifahrertür auf. Erst als ich eingestiegen bin, verfrachtet er mein Gepäck in den Kofferraum und steigt selbst ein.

„Hatten Sie eine angenehme Fahrt?", erkundigt er sich.

„Ich musste früh aufstehen, um den Zug zu erwischen und ich hatte den Eindruck, wir müssten schon irgendwo in Afrika sein, so lange hat die Fahrt gedauert. Doch im Großen und Ganzen ist alles gut gelaufen", antworte ich vergnügt.

Er schmunzelt ein wenig in sich hinein und startet den Motor. Souverän fädelt er den BMW in den ruhigen Nachmittagsverkehr ein. Wir verlassen schon bald die Stadt, die Gegend wird ländlicher. Wir fahren durch die typische Hügellandschaft der Toskana. Ich bin nervlich angespannt. Schließlich habe ich keine Ahnung, was mich erwartet. Doch je länger die Fahrt dauert umso gelassener werde ich. Ich kuschle mich in die Polsterung und genieße die ruhige Fahrt. Die Landschaft ist einfach traumhaft.

Nach etwa einer halben Stunde biegt der Notar von der Landstraße auf einen Feldweg ab. Er muss langsam fahren, denn der Weg ist nicht geteert.

„Warum nehmen Sie das alles auf sich?", erkundige ich mich.

„Was meinen Sie?"

„Sie kommen eigens wegen mir nach Berlin, Sie haben mich, so nehme ich an, erst mit Hilfe eines Privatdetektivs gefunden und nun holen Sie mich vom Bahnhof ab und bringen mich zum Weingut. Das sind nicht die typischen Aufgaben eines Notars. In Berlin zumindest nicht", erläutere ich.

„Giuseppe war nicht nur mein Weinlieferant, er war ein Freund. Sein Schicksal hat mich sehr berührt", erklärt er.

„Wie meinen Sie das?", frage ich nun nach.

„Er war ein Mann, der alles hatte, was sich die meisten Leute unter einem glücklichen Leben vorstellen. Er besaß Häuser in der Stadt und ein Landgut. Er hatte Geld und konnte in Wohlstand leben", meint er.

„Aber?"

„Er war unglücklich. Er hat sein Leben lang mit niemandem darüber geredet. Doch tief in seinem Herzen war er ein sehr unglücklicher Mann. Ich war wohl der einzige, der von seinem Leid wusste. Er hat es niemandem erzählt. Wem auch? Ich hoffe, er hat sich mir nicht nur deshalb anvertraut, weil ich als sein Notar den Nachlass verwalten muss."

„Nur wegen meiner Mutter und mir?", frage ich erstaunt nach.

„Nur? Ihre Mutter war die ganz große Liebe seines Lebens. Obwohl sie alle Brücken hinter sich abgebrochen hat, sie war bis zum letzten Atemzug die einzige Frau in seinem Herzen. Ich bin überzeugt, sein letzter Gedanke galt ihr und einem baldigen Wiedersehen im Jenseits.

Auch Sie haben ihm sehr gefehlt. Es hat ihn sehr gequält, dass er nie etwas mehr in Erfahrung bringen konnte, als ihre Mutter ihm in dem einen Brief geschrieben hat. Zu gern hätte er Sie kennen gelernt."

„Er hatte doch Familie", werfe ich ein.

„Er hat sich von seiner Frau sehr entfernt. Die Ehe war schon nicht mehr die beste, als Ihre Mutter in sein Leben trat. Das wurde danach nur noch schlimmer. Die meiste Zeit hat er auf seinem geliebten Landgut gelebt, seine Frau dagegen hat die Stadt nie verlassen. Seine Kinder haben sich nicht wirklich um ihn gekümmert. Einzig Marco, der ironischer Weise gar nicht sein leiblicher Sohn war, hat ihn ab und zu besucht."

Ich höre ihm aufmerksam und mit wachsender Traurigkeit zu. Ein Mann, der praktisch alles hatte und doch hat ihm ein Leben lang das eine gefehlt, das sein Glück komplett gemacht hätte.

„Haben Sie ein Foto von meinem Vater?"

„Auf dem Landgut gibt es ein Portrait und sicher auch Fotos von ihm."

„Ich möchte ihn einmal sehen. Wissen, was er für ein Mensch war."

„Das kann ich gut verstehen."

Ich bin traurig. Sein Tod trifft mich mehr, als ich gedacht hätte. Obwohl ich ihn nie getroffen habe. Doch allein das, was ich bisher von ihm und über ihn gehört und gelesen habe, hilft mir, ein Bild von ihm zu bekommen. Ich frage mich die ganze Zeit, was gewesen wäre, hätte sich meine Mutter anders entschieden. Wäre dann alles anders verlaufen? Besser? Ich habe keine Ahnung. Es ist müßig jetzt zu spekulieren, was geschehen wäre, wenn.

Ich lasse die wunderbare Landschaft auf mich wirken. Das warme Licht, in das das Land getaucht ist, fasziniert mich und erhellt langsam auch meine Stimmung. Aus der grauen, tristen Stadt heraus in diese wunderbare Gegend eintauchen zu können, empfinde ich als Erlebnis. Ich bin eindeutig ein Kind der Stadt. Ich bin dort geboren, aufgewachsen und lebe seit jeher dort. Ich kenne kaum etwas anderes. Könnte ich von einem Tag auf den anderen hierherziehen?

Die Fahrt über diese schier endlos weiten Felder und durch die Wälder ist ein ganz neues Erlebnis. Natürlich kenne ich solche Gegenden aus dem Fernsehen und war in den Naherholungsgebieten rund um Berlin. Die Landschaft der Toskana ist jedoch in Wirklichkeit viel, viel schöner.

„Schön hier?", erkundigt sich der Notar. Er scheint meine Gedanken zu erraten.

„Es ist ganz anderes, als die Stadt", antworte ich.

Der Weg wird schmaler. Wir fahren zunächst über offenes Land, durchqueren einen kleinen Wald und kommen dann zu einer langen, von Zypressen gesäumten Auffahrt. Sie gleicht verblüffend genau der Auffahrt, die ich in meinem Traum gesehen habe.

Wir fahren den Hügel hinauf. Am Ende des Weges erkenne ich mehrere Gebäude. Beim Näherkommen lässt sich dann abschätzen, dass links das Herrenhaus mit einer Kapelle steht, rechts der Auffahrt befinden sich die landwirtschaftlichen Gebäude.

Der Notar parkt seitlich des Herrenhauses. Beim Aussteigen gehe ich spontan ein paar Schritte auf den Hang zu, der auf der, der Auffahrt abgewandten Seite des Hügels liegt. Mir stockt der Atem. Vor mir fällt der Hang weit zur Ebene hin ab. In der Mitte bildet sich ein kleines Tal, so dass die Weinberge, die sich an den Hängen erstrecken, in einer Art Mulde von Wind und Wetter geschützt sind. Es muss eine riesige Fläche sein.

Dort, wo der Hang den Knick in der Mitte macht, erhebt sich auf halber Höhe ein kleiner Bergrücken, der sich deutlich vom restlichen Gelände abhebt. Fast wuchtig ragt er in die Ebene hinaus. Es ist deutlich zu erkennen, dass man am Grat bequem entlanggehen kann. Am Ende dieses Rückens erkennt man eine größere Fläche. Zur Hälfte ist es Grünfläche, die Teil hin zum Tal ist mit kleineren Bäumen bewachsen.

„Das ist ein Olivenhain und er hat dem Anwesen seinen Namen gegeben: ´l´uliveto´", erklärt der Notar. Ich habe keine Ahnung, wie er wissen kann, wohin ich schaue. „Die Olivenbäume sind unglaublich knorrig und müssen schon seit unzähligen Generationen dort stehen. Niemand hat es je gewagt, sie zu fällen. Es rankt sich zahlreiche Legenden um diesen Platz."

„Ist das der Ort, an dem mein Vater eine Sitzbank aufgestellt hat? War das der Lieblingsort meiner Mutter?", frage ich.

„Ja, die Bank steht ganz draußen am Abhang. Man hat von dort einen wunderbaren Blick über die Ebene. Sie könnten heute abend gerne dorthin wandern und sich selbst ein Bild machen", schlägt er vor.

Er holt meinen kleinen Koffer aus dem Wagen und wir gehen auf das Herrenhaus zu. Im Eingang erscheint er junger Mann, ich schätze ihn auf Ende Zwanzig.

„Das ist Filippo, der Kellermeister. Er hat in den letzten Jahren immer mehr auch die Verwaltung des Weingutes übernommen", stellt mir der Notar den jungen Mann vor. „Filippo, das ist Greta Hertig. Sie ist zur Testamentseröffnung eigens aus Berlin angereist."

„Willkommen signorina Hertig. Darf ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen?", meint er. Sehr galant deutet er eine Verneigung an.

„Guten Tag! Wenn ich dich Filippo nennen darf, dann nennst du mich Greta. Abgemacht?", biete ich an.

Wir sind altersmäßig nicht weit auseinander. Warum sollten wir also förmlich sein? Filippo macht auf mich einen freundlichen, sympathischen Eindruck. Mein Vorstoß wirft ihn etwas aus der Bahn.

„Ja, gerne", stottert er.

„Bis übermorgen dann", verabschiedet sich der Notar. „Wenn Sie etwas brauchen oder eine Frage haben, zögern Sie nicht. Sie können mich jederzeit anrufen."

„Danke, wirklich sehr nett von Ihnen. Vielen Dank auch fürs Herbringen", verabschiede ich mich.

Ich schaue dem Notar nach, der zu seinem Auto geht, einsteigt und davonfährt. Nun bin ich allein irgendwo in Italien. Ich bin komplett auf mich alleine gestellt. Allerdings erschreckt mich das nicht. Ich war genau genommen mein ganzes Leben allein. Also ist diese Situation nicht viel anders, als mein normales Leben.

„Bitte", meint Filippo. Dabei wird er leicht rot im Gesicht. Wie süß!

Er nimmt meinen Koffer und geht voraus. Wir betreten eine große Eingangshalle, von der aus eine schwere Treppe aus Pinienholz nach oben führt. Filippo geht hinauf, ich folge ihm. Dabei muss ich Acht geben, nicht zu stolpern. Ich habe die Augen überall. Alles ist neu und - wie ich finde - ausgesprochen schön.

Oben angekommen teilt sich der Gang. Ein etwa fünf Meter langer Teil führt nach rechts, nach links geht es etwa zwanzig Meter einen Flur hinunter. Filippo biegt nach rechts ab und erreicht bereits nach wenigen Schritten eine Tür, links vom Gang. Er öffnet sie und wir betreten ein großes, helles Zimmer.

„Ich habe dieses Zimmer ausgewählt, weil du von hier aus einen wunderbaren Blick über das Weingut hast", erklärt Filippo. „Es ist eines der schönsten Zimmer im ganzen Haus."

„Danke, das ist ganz lieb von dir."

„In etwa einer Stunde gibt es Abendessen. Wenn du ins Erdgeschoss kommst, führe ich dich ins Speisezimmer", erklärt er. „Oder möchtest du lieber draußen essen."

„Ich würde ganz gern draußen essen, aber das hängt sicher nicht nur von mir ab. Wer isst denn alles mit?", erkundige ich mich.

„Nur wir zwei. Sonst ist niemand auf dem Gut. Die anderen kommen voraussichtlich erst am Dienstag", erklärt er mir. „Dann lasse ich in der Laube drecken."

„Danke", sage ich. „Für alles!"

Filippo lässt mich allein. Da bin ich also. Auf einem Weingut in der Toskana, irgendwo zwischen Siena und San Gimignano. Es ist schön hier. Ich fühle mich von Anfang an wohl. Ich gehe zum Fenster und öffne es. Die Luft ist nicht zu vergleichen mit der in Berlin. Der laue Wind lässt die Blätter leicht schwingen, ist aber angenehm warm. Luftverschmutzung ist hier mit Sicherheit kein Thema.

Ich kann von meinem Fenster aus beinahe den gesamten Weinberg überblicken. Lediglich ein kleiner Teil wird vom Olivenhain verdeckt. Vögel zwitschern und in den großen Pinien, die dem Haus im Sommer Schatten spenden, zirpen die Zikaden.

Das Haus muss uralt sein. Die Mauern sind massiv aus Stein gebaut. Die Möbel sind aus dunklem Holz. Für meinen Geschmack sind sie etwas schwer, ich mag es leichter und moderner. Allerdings muss ich zugeben, dass sie perfekt in dieses Haus und in diese Landschaft passen.

Ich packe meine wenigen Habseligkeiten aus und sehe mich um, damit ich mich frisch machen kann. Zu meiner Überraschung verfügt das Zimmer über ein eigenes Bad, ein wunderschönes Bad sogar. Kurz entschlossen lasse ich Wasser in die Wanne laufen und lege mich hinein. Eine Flasche Badeschaum steht ebenfalls bereit, so dass ich davon nehme.

In der Wanne entspanne ich mich total. Das Wasser wäscht nicht nur den Staub von meinem Körper. Auch meine Sorgen und Bedenken zerfließen. Als ich nach einer halben Stunde aus der Wanne steige, bin ich gelassen und zuversichtlich. Ich nehme mir vor, alles auf mich zukommen zu lassen.

Als ich wieder angezogen bin, ist es auch schon Zeit, zum Abendessen zu gehen. Ich mache mich auf den Weg. In dem Moment, in dem ich die Treppe hinabschreite und die Halle vor mir sehe, muss ich unweigerlich daran denken, dass all das mir gehören soll. Leider kann ich mich noch nicht mit der Vorstellung anfreunden, die Gutsherrin zu sein.

Filippo kommt in dem Moment aus einer Tür, als ich den Fuß der Treppe erreiche. Ganz unbewusst scheint sich ein freundliches Lächeln auf seine Lippen schleicht, als er mich erblickt.

„Hallo Greta, du bist pünktlich", meint er.

„Das hättest du mir wohl nicht zugetraut", scherze ich.