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Der lila Duft des Lavendel

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Es ist nicht nur dieses Lachen, es sind auch ihre bernsteinfarbenen Augen, die mich in ihren Bann ziehen. Sie sieht mich damit so unglaublich verliebt an. Sie strahlt, ihre Trauer ist wie weggeblasen. Aber das sind leider nur Träume. Darin taucht sie in dieser Nacht unzählige Male auf und lacht mich mit ihren strahlenden Augen verliebt an.

Ich bilde mir ein, ich bekomme so zumindest einen Eindruck davon, wie sie wohl sein kann. Das Lächeln und die strahlenden Augen wird sie mit Sicherheit haben. Ob ihr verliebter Blick mir gilt oder ob es nur Wunschdenken ist, das kann ich nicht sagen. Doch ich will es herausfinden, dazu bin ich fest entschlossen.

Mit dieser Gewissheit schlafe ich dann doch endlich ein und gleite in einen tiefen Schlaf. Ich werde morgen zwar nicht ausgeruht sein, dazu bin ich zu lange wach gelegen oder habe wild geträumt. Dafür bin ich jetzt wirklich entschlossen, Vera näher kennen zu lernen.

Kapitel 2

Irgendetwas rüttelt an meiner Schulter. Es muss schon Tag sein, denn die Sonne strahlt mitten ins Zimmer. Nur mit Mühe bekomme ich die Augen auf und was sehe ich? Am Rand meines Bettes sitzt Vera und schenkt mir ein umwerfendes Lächeln. Es übertrifft sogar meine kühnsten Träume.

„Guten Morgen, du Schlafmütze. Wir müssen ins Krankenhaus", lacht sie immer noch vergnügt.

„Guten Morgen! Wie spät ist es denn?", frage ich noch verschlafen.

„Es ist schon sieben Uhr."

„Ist das spät?", frage ich.

„Ich bin schon wieder müde", grinst sie.

„Ich immer noch", muss nun auch ich lachen.

„Komm in die Küche, es gibt Frühstück", fordert sie mich auf. Dann haucht sie mir erneut einen schüchternen Kuss auf die Wange, bevor sie schnell aus dem Zimmer verschwindet. Es wirkt beinahe wie eine Flucht. Die Frage ist nur, vor wem sie flüchtet.

Mühsam schäle ich mich aus dem Bett. Mein Gott, ich habe wie immer nackt geschlafen. Zum Glück habe ich das Leintuch über mich gebreitet, so dass Vera nichts Genaues sehen konnte. Das wäre äußerst peinlich gewesen. Ich mag nicht im Pyjama schlafen, ich brauche die Freiheit. Zumindest bilde ich mir das ein.

Nach der Morgentoilette fühle ich mich etwas ausgeschlafener und erscheine wenig später frisch gekleidet in der Küche. Vera hat ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. Ich kann mir nicht erklären, was es damit auf sich hat.

Vera schenkt mir einen herrlich duftenden Kaffee ein und ich nehme mir ein Hörnchen. Auf dem Tisch steht ein Körbchen mit allerlei Gebäck und lädt förmlich dazu ein, zuzugreifen. Vera nimmt sich nur eine Tasse Kaffee, sitzt mit angezogenen Beinen auf ihrem Stuhl und schaut mir die ganze Zeit zu, wie ich esse. Dabei hat sie ein verträumtes Lächeln auf den Lippen.

„Geht es dir heute besser?", frage ich. Ich versuche damit, das Gespräch in Gang zu bringen.

„Ja, danke, dass du gestern für mich da warst. Es tut gut, dass du im Haus bist. Alleine könnte ich diese Situation nur schwer ertragen. Wie das Ganze an mir nagt, hast du gestern in unschöner Weise miterlebt", meint sie. Dabei wird sie ernst.

„Mach dir deshalb keinen Kopf. Ich kann dich gut verstehen. Glaube mir! Man will stark sein und sich keine Blöße geben. Nur irgendwann ist einfach der Punkt erreicht, an dem man nicht mehr kann. Dann muss alles raus. Mach dir deshalb keine Gedanken. Ich würde mir eher Sorgen um dich machen, wenn du das ganze einfach wegstecken würdest."

„Es ist nicht einfach. Es ist nicht nur die Krankheit meines Vaters. Auf mich kommt ein Problem zu, wovon ich noch keine Ahnung habe, welches Ausmaß es annehmen wird. Wie soll ich alleine das Chateau führen? Verkaufen kommt nicht in Frage, das würde ich nicht übers Herz bringen. Ich weiß genau, mein Vater würde das nie verstehen und würde sich im Grab umdrehen. Er hängt sehr an diesem Haus und dem Land. Das ist schließlich sein Lebenswerk", erklärt sie.

„Du hast keine Ahnung? Hast du nicht deinem Vater über die Schulter geschaut?", frage ich nach.

„Das schon, natürlich. Aber reicht das?"

„Du bist ein sehr kluges Mädchen. Ich bin sicher, du wirst das schaffen", versuche ich sie aufzumuntern.

„Du sagst es, ich bin ein Mädchen", kontert sie.

„Ja und? Aus der Zeit, in der Frauen nicht ein Chateau führen durften, sind wir zum Glück heraus", bin ich verwundert von ihrer Reaktion.

„Das siehst du so. Aber sicher nicht die eingesessenen Grundbesitzer in der Gegend hier. Die werden alles unternehmen, um mir Prügel in den Weg zu legen und mich zum Aufgeben zu zwingen. Da draußen ist nicht nur einer, der sich dieses Land für wenig Geld unter den Nagel reißen will. Dabei wird der, der mir die schönsten Augen macht, der Schlimmste sein", versichert sie mir.

Ich bin platt. Vera hat vermutlich Recht. Es wird sicher einige geben, die glauben, ein Mädchen könnte man leicht übers Ohr hauen und wollen daraus Profit schlagen. Trotzdem, Vera ist doch eine taffe Frau.

„Ich glaube du schaffst das trotzdem", versuche ich sie weiter aufzubauen.

Dabei greife ich nach ihrer Hand und drücke sie. Ich weiß keinen anderen Weg, um ihr zu zeigen, dass ich es ehrlich meine und davon überzeugt bin.

„Fahren wir zu Roland ins Krankenhaus. Dann sehen wir weiter. Noch ist er nicht gestorben und noch geht die Hatz auf die kleine Führmann noch nicht los", meint sie entschlossen.

Vera steht auf, um die Tasse in die Spüle zu stellen. Ich folge ihrem Beispiel. Ich bin still geworden, denn das was sie gerade gesagt hat, trifft mich doch mehr, als ich gedacht hätte. Erstens weil ich mir die Leute hier nicht so gemein und rückständig vorgestellt hätte und andererseits weil mir Veras Schicksal deutlich näher geht, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.

Zu Onkel Roland hatte ich schon ewig keinen Kontakt mehr und Vera habe ich erst gestern kennen gelernt. Außerdem bin ich bei Fragen rund um Landwirtschaft und so eh draußen. Meine einzige Kenntnis von Landwirtschaft besteht im Kaufen und Essen von Produkte. Zugegeben, auch ab und zu ein Glas Wein gehört dazu. Doch mein Berührungspunkt mit der Landwirtschaft ist der Supermarkt, in dem ich einkaufe.

Ich habe die kleine Führmann, wie sie sich selbst nennt, in so kurzer Zeit bereits in mein Herz geschlossen. Sie ist ein ausgesprochen liebenswertes Mädchen und sie ist verteufelt hübsch. Eine wirkliche Augenweide! Habe ich mich etwa in die kleine Maus verguckt? Ich? Nein, das ist unmöglich. Ich habe es bisher nie geschafft eine Beziehung aufzubauen und soll nun in nicht einmal einem Tag Vera verfallen sein? Das würde wohl nicht mit rechten Dingen zugehen. Oder?

Ich sitze neben ihr im Wagen und überlege, was es für Vera bedeuten würde, wenn sie das Gut tatsächlich verkaufen müsste. Sie wäre nicht nur ganz allein auf der Welt, sie wüsste auch nicht mehr wohin. Keine Wunder, dass sie sich Sorgen macht.

Als wir am Krankenhaus ankommen, schaut sie mich aufmunternd an. Gerade sie, die so viele Probleme hat, schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. Dabei strahlen ihre bernsteinfarbenen Augen. Nein, sie funkeln vielmehr und schon wieder zieht sie mich unweigerlich in ihren Bann. Dieses Mädchen ist unglaublich liebenswert.

Wir gehen die breiten Treppen hinauf in den zweiten Stock des Gebäudes. Man sieht sofort, dass es sich um ein Provinzkrankenhaus handelt. Die Struktur ist alt und renovierungsbedürftig. Die Farbe bröckelt an mehreren Stellen ab. Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier qualifizierte Ärzte am Werk sind. Wer gut ist und eine Chance bekommt, der bleibt doch nicht hier?

„Sollten wir nicht schauen, dass Onkel Roland in ein besseres Krankenhaus verlegt wird?", frage ich, als wir einen langen Gang hinuntergehen.

Vera bleibt stehen und sieht mich eindringlich an. Ihre Augen scheinen mich zu beschwören.

„Bitte nicht. Roland möchte hier sterben. Er will seinem Land ganz nah sein, daran hängt sein Herz", antwortet sie entschlossen.

„Aber in einem großen Krankenhaus hätte er sicher bessere Ärzte", versuche ich zu argumentieren.

„Tom, wir haben alles versucht. Wir waren in einem schönen, großen Krankenhaus mit sehr guten und manchmal auch arroganten Ärzten. Auch sie mussten meinem Vater sagen, dass er sterben wird. Wir haben keine andere Wahl, wir müssen uns mit der Tatsache abfinden, dass ihm kein Arzt der Welt mehr helfen kann.

Also respektiere bitte seinen letzten Wunsch, hier in der Nähe seines Gutes die letzten Tage verbringen zu können. Am liebsten würde er nach Hause kommen, doch ich sehe mich nicht in der Lage, ihn dort zu pflegen. Wenn er Hilfe braucht, was sollte ich dann tun?"

Ihre Stimme ist kraftlos und traurig. Sie würde ihm gerne diesen letzten Wunsch erfüllen. Das spüre ich in jedem Wort, das sie sagt. Und doch ist sie Realistin genug, einzusehen, dass sie das alleine nie stemmen kann.

„Okay!", sage ich gedehnt.

Ich füge mich ihrem Wunsch. Vera blickt mich dankbar an und dreht sich dann um, um den Weg fortzusetzen. Schon wenige Schritte weiter bleibt sie an einer Tür stehen und klopft an. Dann macht sie auf und tritt ein. Ich folge ihr.

Ich bin schockiert. In einem größeren Raum stehen zwölf Krankenbetten. Acht davon sind belegt. Die Männer sind alle schon etwas älter. Mein Onkel dürfte mit seinen Dreiundsechzig Jahren der Jüngste sein. Aber alle sehen sehr krank aus. Ich denke, es handelt sich bei allen um Krebspatienten, bei denen nur mehr wenig Hoffnung besteht.

Zwölf Betten in einem einzigen Raum wären bei uns in Frankfurt nicht vorstellbar. Die Räume sind auch nicht mehr groß genug, um so viele Betten aufzunehmen. Das war früher auch bei uns anders. Hier in einem Provinzkrankenhaus in der Provence dagegen ist das vermutlich noch immer Alltag.

„Hallo Papa, schau, wen ich heute mitgebracht habe", meint Vera gut gelaunt.

Sie ist ein unglaublicher Schatz. Vorhin noch so traurig und niedergeschlagen und jetzt, nur wenige Sekunden später, spielt sie die gut gelaunte Tochter Sie will ihren Vater nicht noch mit trüben Gedanken belasten. Stattdessen frisst sie die Probleme in sich hinein und versucht alles mit sich selbst auszumachen. Ich finde das unglaublich lieb von ihr. Ich wünschte, das würde jemand eines Tages auf sich nehmen, wenn ich im Sterben liege. Allerdings zehrt das auch sichtlich an ihren Kräften. Das kann nicht einfach sein, immer nur die Unbekümmerte zu spielen.

„Hallo Onkel Roland", grüße ich.

Ich bin unsicher und versuche mich vorsichtig heranzutasten. Ich erkenne den Mann vor mir kaum wieder. Einerseits ist es über zwanzig Jahre her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe und andererseits ist er von der Krankheit schwer gezeichnet.

„Hallo Thomas, schön, dass du trotz allem gekommen bist."

Onkel Roland fällt selbst das Sprechen schwer. Sogar das ist für ihn eine ungeheure Anstrengung. Sein Blick haftet unsicher an mir, als würde er vor dem, was ich sagen könnte, Angst haben. Das hängt nicht mit seiner Krankheit zusammen. Die Unsicherheit hat einen anderen Grund.

„Wie meinst du das?", frage ich deshalb. Ich habe keine Ahnung, was er damit meint.

„Du weißt es nicht? Dein Vater hat dir nie etwas erzählt?"

„Was soll er mir erzählt haben?"

„Warum wir uns nie mehr gesehen haben", meint er.

„Nein, er hat mir nie von dir erzählt. Mir ist nur klar geworden, zwischen Euch muss etwas sehr Einschneidendes vorgefallen sein. Mein Vater war kein nachtragender Mensch und hat bald wieder verziehen. Nur bei dir hat er seinen Groll ein Leben lang nicht ablegen können. Allerdings hat er auch nie erzählt, was zwischen Euch vorgefallen ist", antworte ich wahrheitsgemäß.

„Vera, würdest du uns bitte einen Augenblick alleine lassen? Tom hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Er ist inzwischen alt genug", meint Roland zu meiner Überraschung.

„Ich denke Vera sollte bleiben. Es geht um die Familie und da gehört sie dazu", sage ich. Ich weiß nicht, warum ich das sage und bin von mir selbst überrascht. Es ist wohl eher ein Gefühl, aus dem heraus ich Vera nicht ausschließen will.

„Aber es war vor ihrer Zeit", wirft Onkel Roland besorgt ein.

„Es hat Auswirkungen gehabt, bis heute und möglicherweise auch auf die Zukunft. Warum sollte sie nicht wissen, worum es geht", beharre ich.

„Sie hatte mit der Sache nichts zu tun. Sei bitte nicht böse auf Vera. Sie kann nichts dafür", wehrt mein Onkel fast verzweifelt ab.

„Das weiß ich selbst, dass Vera keine Schuld trifft. Das sind Vorfälle lange vor meiner und ihrer Zeit. Deswegen musst du dir keine Sorgen machen", beruhige ich ihn.

Onkel Roland schaut mich nach wie vor besorgt an. Dann schaut er zu Vera. Er denkt nach.

„Willst Du dabei sein?", meint er fast flehend. Ich habe den Eindruck, er hofft, dass sie uns doch alleine lässt. Doch Vera bleibt auf dem Bettrand sitzen.

„Tom hat Recht. Das liegt alles lange vor unserer Zeit. Ich habe ihn so gut kennen gelernt, dass ich ihm glaube, wenn er sagt, dass er das Gestern und das Heute trennen kann. Wenn dem nicht so ist, dann kann ich es auch nicht ändern. Ich würde dann allerdings schon gerne wissen, warum er sauer auf mich ist", antwortet sie entschlossen.

„Na gut, Ihr Jungen wollt immer alles wissen. Manchmal sollte man die Vergangenheit ruhen lassen. Wohl auch deshalb hat Werner dir nie etwas erzählt", gibt sich mein Onkel geschlagen. In seiner Stimme liegen Bewunderung und Resignation gleichermaßen. Nach einer Pause beginnt er zu erzählen. „Wie du sicher weißt, haben dein Vater und ich das Chateau gemeinsam gekauft. Ich wollte immer schon ein berühmter Weinbauer werden. Da traf es sich ganz gut, dass mein Bruder eine Geldanlage gesucht hat. Seine Frau - das wäre deine Mutter - hatte eine Erbschaft gemacht, irgendein entfernter Onkel."

Onkel Roland macht eine längere Pause. Es ist ihm deutlich anzusehen, dass ihn das Sprechen anstrengt. Zudem fällt ihm auch das Erzählen der Geschichte selbst nicht leicht. Vera reicht ihm ein Glas und hilft ihm, einen Schluck Wasser zu trinken. Dann schaut sie mich unsicher an. Ich nehme ganz unbewusst ihre Hand, um sie zu beruhigen.

„Am Anfang war alles gut. Doch schon nach wenigen Jahren änderte sich einiges. Wir waren immer öfter anderer Meinung. Während ich den Ehrgeiz hatte, einen ganz besonderen Wein zu machen, ging es Werner eher ums Geld. Es kam immer öfter zu Streitigkeiten und schon nach wenigen Jahren war es fast unmöglich, gemeinsam weiterzumachen."

Wieder macht Roland eine Pause. Ich habe das Gefühl, ich kann aus seinen Worten regelrecht spüren, wie sehr er all die Jahre unter dem Streit und den Folgen gelitten hat. Wieder sieht mich Vera unsicher an und ich drücke erneut zur Beruhigung ihre Hand.

„Irgendwann ging es nicht mehr. Wir haben nur noch gestritten. Darunter hat die Führung des Weingutes schwer gelitten. Da wir zu Beginn den Fehler gemacht haben, die Anteile je zur Hälfte unter uns aufzuteilen, wurde jede Entscheidung zum Problem. Es gab endlose Diskussionen, die zu keiner Entscheidung führten. Am Ende hat Werner jeglichen Beschluss blockiert. Ich hatte den Eindruck, nur zum Trotz war er immer anderer Meinung als ich. Ich gebe zu, ich habe damals alles nur aus meiner Warte aus gesehen und nie versucht, ihn zu verstehen. Am Ende wollte er verkaufen und das habe ich blockiert. Das Chateau war und ist immer mein Traum gewesen und das wollte ich um nichts auf der Welt loslassen."

„Mein Vater konnte ein ausgesprochen sturer Mensch sein, wenn es darum ging, seinen Willen durchzusetzen. Das habe ich mehr als einmal erlebt", bestätige ich.

„Heute gebe ich nicht nur ihm die Schuld. Ich war genauso schuld an der Misere. Das sehe ich heute ein und es tut mir aufrichtig leid. Doch das allein ist nicht das Problem. Irgendwann kam etwas, auf das ich bis heute nicht stolz bin. Im Gegenteil, ich schäme mich ganz maßlos dafür", meint Onkel Roland niedergeschlagen.

„Was ist dann passiert?", frage ich. Ich habe das Gefühl, dass jetzt die Stelle kommt, die zur Feindschaft zwischen den beiden geführt hat.

„Ich habe so getan, als würde ich einem Verkauf zustimmen. Da ich vor Ort war und mich besser auskannte, als er, hat mir Werner eine Vollmacht ausgestellt, den Verkauf abzuwickeln. Dabei allerdings habe ich ihn übers Ohr gehauen", meint er. Ihm rinnt eine Träne über die Wange.

Einen alten, todkranken Mann zu sehen, wie er weint, das geht mir unglaublich nahe. Auch wenn er gerade gestanden hat, meinen Vater übers Ohr gehauen zu haben, so kann ich ihm nicht böse sein. Im Augenblick zumindest. Vera ist im ersten Moment völlig überrascht. Sie hat davon nichts gewusst. Nun schaut auch sie mich unsicher an. Offenbar ist sie sich nicht mehr ganz so sicher, wie ich reagieren könnte. Doch erneut drücke ich ihre Hand, um ihr zu zeigen, dass alles gut ist.

„Ich habe mit einem Freund die List ausgeheckt. Er sollte das Weingut kaufen und es mir dann nach einem halben Jahr wieder zum selben Preis zurückgeben, den wir besonders niedrig angesetzt haben. Ich hatte damals nicht viel Geld, um das Gut zu seinem wirklichen Wert kaufen zu können. Also musste ich diese List anwenden, um mein Chateau nicht zu verlieren.

Wir haben es dann auch gemacht, wie wir es geplant hatten. Mein Freund hat das Chateau zu einem Spottpreis gekauft. Werner hat getobt, konnte aber nichts machen, weil er mir die Vollmacht erteilt hatte. Er hat mich einen Esel genannt und gemeint, ich hätte noch nie viel Sinn für das Geschäftliche gehabt. Bis dahin hat er mich einfach für unfähig gehalten.

Er hat Verdacht geschöpft, als ich nicht vom Weingut weggezogen bin und stattdessen weitergemacht habe, wie bisher. Ich habe ihm das so erklärt, ich hätte mit dem Käufer vereinbart, ich könnte so lange bleiben, bis ich etwas Neues gefunden habe. Auch den Rückkauf hat er nicht sofort mitbekommen. Deshalb nahm alles noch eine gewisse Zeit seinen gewohnten Lauf", erzählt er weiter.

„Aber irgendwann ist er dahinter gekommen. So gut kenne ich meinen Vater", werfe ich ein.

„Ja, das ist er. Er stand eines Tages vor der Tür und hat mit einem Grundbuchauszug gewedelt. Mein Gott, diese Augen werde ich nie mehr in meinem Leben vergessen. Er hat getobt, mich einen elenden Betrüger genannt und mir eine reingehauen. Er war unglaublich enttäuscht. Heute kann ich ihn verstehen. Aber damals, in dieser Situation, habe ich keinen anderen Ausweg gewusst", erzählt Onkel Roland weiter.

„Und das hat dir mein Vater nie mehr verziehen", vermute ich.

„Ich habe unzählige Male versucht mit ihm zu reden. Ich habe Briefe geschrieben, angerufen und einmal bin ich nach Frankfurt gefahren. Er wollte mich nicht sehen! Ich habe ihm sogar noch kurz vor seinem Tod angeboten, wieder die alten Verhältnisse herzustellen. Er wollte nicht mehr. Ich glaube, am meisten getroffen hat ihn, dass das Geld, mit dem er eingestiegen war, das deiner Mutter war", ergänzt Roland.

Eine Zeitlang ist es still. Keiner von uns sagt ein Wort. Die anderen Kranken im Zimmer räuspern sich, einer schnarcht. Das sind die einzigen Geräusche, die zu hören sind. Ich denke nicht, dass die anderen etwas mitbekommen haben. Onkel Rolands Bett liegt etwas abseits von den anderen. Es sind leere Betten dazwischen.

Vera schaut mich fragend an. Erneut drücke ich ihre Hand und lächle sie an. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich die ganze Zeit ihre Hand gehalten habe. Warum ich das mache, ist mir ein Rätsel. Ich bin nicht so fürs Händchenhalten und Vera kenne ich noch keine vierundzwanzig Stunden. Warum also genau bei ihr?

Ich bin nicht verärgert, auch wenn ich nicht gutheißen kann, was Onkel Roland getan hat. Ich versuche ihn zu verstehen. Es musste eine Lösung her und mit meinem Vater war es manchmal echt nicht leicht. Ich kann auch verstehen, dass Onkel Roland das Weingut nicht hergeben wollte, in das er die Jahre zuvor seine ganze Arbeit und sein Herzblut gesteckt hat. Der Aufbau war sicher nicht leicht. Das hat vermutlich alles er gemacht, mein Vater hat von Weinbau nichts verstanden. Trotzdem, die Art und Weise, wie er das Problem gelöst hat, war nicht in Ordnung.

„Dann gehört eigentlich die Hälfte des Chateaus Tom", sagt Vera. Sie mischt sich damit zum ersten Mal ein.